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Descrição gerada automaticamente

Universidade Federal de Santa Maria

Voluntas, Santa Maria, v. 16, n. 1, e91689, 2025

DOI: 10.5902/2179378691689

ISSN 2179-3786

Submissão: 29/04/2025 Aprovação: 31/07/2025 Publicação: 03/09/2025

1 EINLEITUNG.. 3

2 WAS IST DAS GEDÄCHTNIS (MEMORIA)?. 4

3 WAS SIND GEMÜTSBEWEGUNGEN (PASSIONES)?. 7

4 BEISPIEL FÜR DIE FUNKTIONSWEISE DES ERINNERNS AN DIE GEMÜTSBEWEGUNGEN INNERHALB DER CONFESSIONES  11

5 DIE METAPHER VOM GEDÄCHTNIS ALS MAGEN DES GEISTES. 15

6 SCHLUSSFOLGERUNG.. 21

DANKSAGUNG.. 23

HINWEISE. 24

 

Emotions and affectivity

Das Erinnern an die Gemütsbewegungen in den Bekenntnissen Augustinus

The Memory of Passions in Augustine’s Confessions

Alisson Brandemarte MoreiraIÍcone

Descrição gerada automaticamente

I Universidade Federal da Fronteira Sul, Chapecó, SC, Brazil

 

ZUSAMMENFASSUNG

In den Bekenntnissen des Heiligen Augustinus ist das Erinnern an die Gemütsbewegungen ein Konzept, das aus dem Gedächtnis und den Gemütsbewegungen gebildet wird, Kräften (vis), die sich im Inneren der Person befinden. Um sie zu verstehen, ist es notwendig, die Funktionsweise von Gedächtnis und Gemütsbewegungen innerhalb der Confessiones zu präzisieren: sowohl isoliert als auch in Verbindung. Im ersten Fall wird dies mittels Beschreibungen in der Arbeit geschehen, mit Schwerpunkt auf Buch X; im zweiten Fall wird die Metapher vom Gedächtnis als Magen des Geistes untersucht. Es soll die Relevanz der Diskussion auf dem Weg der Suche nach Gott aufgezeigt werden, der als identisch mit der Wahrheit, dem Gut, der Einheit und dem Sein verstanden wird. Mit anderen Worten, es soll hervorgehoben werden, dass das Ziel des Studiums des Erinnerns an die Gemütsbewegungen darin besteht, zu verstehen, wie Gedächtnis und Gemütsbewegungen bei der Suche nach dem, was sie transzendiert, zusammenwirken. In diesem Sinne verwirklicht sich die Finalität des Erinnerns an die Gemütsbewegungen, indem sie durch ihre Funktionsweise bei dieser Suche nach Gott hilft. So besteht der Beitrag des Erinnerns an die Gemütsbewegungen nicht nur darin, die Begriffe der Gemütsbewegungen aufzubewahren, sondern auch ihren Geschmack zu verwerfen, damit die Person sie nicht erneut erleben muss, um aus ihnen ihr Wachstum, d. h. ihre persönliche Transformation, zu ziehen.

 

Schlüsselwörter: Gemütsbewegungen; Erinnerung; Gedächtnis; Bekenntnisse; Augustinus

 

ABSTRACT

In Saint Augustine’s Confessions, the memory of passions is a concept formed by the memory and passion, powers (vis) that are encountered in the person’s interiority. To comprehend it, it is necessary to precisely determine how memory and passion work inside the Confessions: both in isolation and in union. In the first case, that is going to be done through descriptions that are present in the work, with focus on Book X; while, in the second case, the metaphor of memory as the stomach of the mind is going to be investigated. It is intended to show the relevance of the discussion in the search of God’s itinerary, which is understood as identical to the truth, the goodness, the unity and the Being. In other words, we are going to stress that the aim of studying the memory of passions is, therefore, to understand how memory and passions interact in the search for what transcends them. In this sense, the finality of the memory of passions is actualized insofar as it helps out in the search for God, through its way of functioning. Thus, the contribution of the memory of passions is not only to keep the notions of the passions, but also to forwent their taste, so that the person needs not experience them again for taking away her/his growth, that is, her/his personal transformation.

Keywords: Passions; Remembrance; Memory; Confessions; Augustine

1 EINLEITUNG

Das Ziel dieses Artikels ist, das Konzept des Erinnerns (memoria) an die Gemütsbewegungen (passionen) in den Confessiones des Heiligen Augustinus (354-430) einführend und daher nicht abschließend zu untersuchen. Spezifisch wird es bestimmen, wie Erinnerung und Gemütsbewegungen im Geist (mens) im Kontext des augustinischen Weges der Rückkehr zu Gott, d. h. zum glücklichen Leben, zur Ewigkeit, zum Guten usw., zusammenwirken.

            Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden eine Reihe von Fragen gestellt. Die erste lautet: „Was ist das Gedächtnis (memoria)?“. Diese Frage kann anhand des zehnten Buches beantwortet werden, in dem das Thema Gedächtnis besonders ausführlich behandelt und ihre grundlegenden Merkmale – darunter z. B. die der Räumlichkeit – vorgestellt werden.

            Die zweite Frage lautet: „Was sind Gemütsbewegungen (passiones)?“. Diese Konzeption zieht sich durch die Confessiones vom Anfang bis zum Ende, und es sind genau die Gemütsbewegungen, wie man sehen wird, die das irdische Leben des Menschen im Laufe der Zeit verändern. Darüber hinaus kann die Antwort auf dieses Problem mittels der Analyse ihrer Funktionsweise, ihrer Beschreibungen und ihrer Hauptmerkmale gegeben werden. Würden die Gemütsbewegungen auf Grund ihrer Fähigkeit, den Menschen zu beeinflussen, dazu dienen, uns zu Gott zu führen?

            Aufgrund der Komplexität des Themas wird im dritten Abschnitt dieses Artikels eine Fallanalyse durchgeführt. Es geht darum, zu beobachten, wie sich diese Vokabeln in der Erzählung des hipponischen Philosophen über sein eigenes Leben manifestieren, um die Erinnerung an die Gemütsbewegungen zu veranschaulichen, zu kontextualisieren und zu vertiefen.

            Schließlich wird die Interaktion zwischen Gedächtnis und Gemütsbewegung – die Erinnerung an die Gemütsbewegungen – anhand einer Metapher untersucht. Diese Metapher erscheint als Antwort auf eine Merkwürdigkeit: Wie ist es möglich, dass das Gedächtnis die Gemütsbewegungen in sich trägt, ohne dass der Mensch sie ständig fühlt? Wie ist es möglich, dass sich der Mensch an eine traurige Erfahrung erinnert, während er glücklich ist?

2 WAS IST DAS GEDÄCHTNIS (MEMORIA)?

 

            Augustinus gelangt zum Gedächtnis (memoria)[1] auf einem bestimmten Weg zu Gott (erkannt als die Wahrheit, das Sein und das Gute): vom Äußeren zum Inneren; dann, innerhalb des Inneren, vom Niederen zum Höheren. So geht man im zehnten Buch der Confessiones von der Außenwelt, der Erde, dem Meer, den kriechenden Lebewesen, der Sonne usw. (Dinge außerhalb des Menschen) zu den niederen und höheren Geisteskräften über, wie derjenigen, die allen tierischen Körpern Leben einhaucht, und derjenigen, die dem Fleisch die Sinne verleiht. Schrittweise emporsteigend, gelangt Augustinus zum Gedächtnis.

            Das Gedächtnis wird als Gefilde und weite Paläste beschrieben, als ein großer Hof, als ein ungeheurer Raum des Geistes und als eine gewaltige Fassungkraft, in dem unzählige Bilder/Vorstellungen von Dingen, die von den Sinnen stammen (res sensis), sowie die Gemütsbewegungen aufbewahrt werden. In diesem Fall wird es metaphorisch mit einem Magen verglichen. Augustinus erwähnt später im Buch X, XVI, 24, die Vergessenheit, die 7 freien Wissenschaften und andere Dinge (res). Das Gedächtnis wird auch als eine große Kraft des Lebens (vitae vis) bezeichnet, im spezifischen Sinne einer Tür zur Ewigkeit, zur Quelle des Lebens (Gott), im Gegensatz zu der Person, in der diese Kraft vorhanden ist, die lebt, trotzdem sterblich ist[2]. Auch wenn der Mensch Leben hat, sollte es nicht ihm zugeschrieben werden, sondern Gott, da er derjenige ist, der die wahre Quelle des Lebens in sich trägt.

            Einerseits ist es wichtig zu betonen, dass diese Große des Gedächtnisses nicht wörtlich als äußerer/körperlicher Raum zu verstehen ist, sondern metaphorisch als innerer/spiritueller Raum[3]. Auf diese Weise wird eine Analogie zwischen äußerem und innerem Raum hergestellt.

            Andererseits muss gesagt werden, dass alles, was ist, von, in und durch Gott ist[4]. Aus diesem Grund gehen das Gedächtnis, der Geist, seine Kräfte, die Gemütsbewegungen, genau in dem Maße, in dem sie sind, vom Sein aus zu ihm selbst und verlassen es niemals. Daher ist die unendliche und tiefe Vielfalt des Gedächtnisses – die Augustinus mit dem Geist gleichsetzt (oder sogar gleichsetzt[5]); und dann mit der Person – in Bezug auf die Rückkehr zur Einheit (zu Gott) zu analysieren: das Ziel von allem, was ist, der Weg zum ewigen Leben[6]. Das ist also der Zweck des Gedächtnisses und auch der Gemütsbewegungen: aus, in und durch Gott zu handeln und zu interagieren.

            Vor diesem Hintergrund versteht Augustinus das Gedächtnis als die Kraft, die Erfahrung vergangener und gegenwärtiger Handlungen aufzubewahren[7]; und die Zeit als Ausdehnung des Geistes (distentio animi). Aus diesem Grund ist das Gedächtnis von größter Bedeutung für das menschliche Handeln; andernfalls wäre eine Handlung, sobald der Mensch sie ausgeführt hat, vergessen und könnte daher nicht fortgesetzt werden. Kurz gesagt, das Gedächtnis ist das, was die Gegenwart mit der Vergangenheit in der Seele verbindet.

            In diesem Sinne formt die Zeit, die Ausdehnung des Geistes, die persönliche Geschichte, in der sich der Weg zum ewigen Leben vollzieht. Das Gedächtnis spielt auf Grund davon eine bedeutende Rolle auf dem Weg zum ewigen Leben, denn die Veränderungen im Handeln werden grundlegend davon beeinflusst, was im Gedächtnis aufbewahrt ist. So nimmt man die Vergangenheit in der Gegenwart als Grundlage, so zu handeln, um die persönliche Zukunft zu verändern. Zusammenfassend verwirklicht das Gedächtnis seinen Einfluss auf die persönliche Veränderung durch das Handeln.

 

3 WAS SIND GEMÜTSBEWEGUNGEN (PASSIONES)?

 

Im Buch X[8] der Confessiones erörtert Augustinus den „Ort“, an dem Gott im Gedächtnis innewohnt. Da Augustinus weiß, dass das Gedächtnis verschiedene Dinge (res) enthält, versucht er auf diesem Weg, diese Dinge zu untersuchen, Gruppe für Gruppe, bis er zu den Gemütsbewegungen der Seele (passionum animi) gelangt. Was sind aber diese Gemütsbewegungen?

            Die Gemütsbewegungen der Seele erhalten verschiedene Namen, wie Affekte/Leidenschaften (affectus), Gemütsbewegungen/Gemütsstimmungen (affectionum), Störungen (perturbationes) oder Regungen (motus). Diese Namen offenbaren den Charakter der Ruhelosigkeit der Gemütsbewegungen; und so ist es auch, weil die Gemütsbewegungen wie Neigungen wirken, die die Seele zu etwas hinziehen. Daraus folgt, dass es ein Gewicht gibt, das sie lenkt und bewegt. Deshalb ist es vernünftig zu denken, dass dieses Gewicht der Leidenschaften sowohl zu etwas Gutem als auch zu etwas Schädlichem führen kann. In diesem Sinne wird der Charakter der Erfahrung, zu welcher eine bestimmte Gemütsbewegung führen wird, mittels der Rechtschaffenheit der Gemütsbewegung bestimmt, und diese Rechtschaffenheit ist mit dem Willen verbunden, der die Leidenschaften motiviert.

            Obwohl man nach der traditionellen Einteilung, die möglicherweise stoischen Ursprungs ist, sagt, dass es vier „Störungen der Seele“ gibt, nämlich Begierde (cupiditas), Freude (laetitia), Furcht (metus) und Trauer (tristitia)[9], wird auch die immense Vielfalt, ein weiterer Gemütsbewegungscharakter, anerkannt, der aus diesen vier „Hauptstörungen“ entsteht. Oder, wie der Philosoph sagt: „und doch sind seine Haare leichter zu zählen als seine Leidenschaften und seines Herzens Regungen“[10].

            Aus der Verwendung des Ausdruckes „vollkommener Hass“ (odio perfecto[11]) lässt sich schließen, dass es im irdischen Leben keine Leidenschaft gibt, die notwendigerweise schlecht ist, da jede Gemütsbewegung als rechtschaffen angesehen werden kann, je nach dem Willen (oder der Liebe), der sie bewegt oder inspiriert; das gilt selbst für Gemütsbewegungen, die gewöhnlich auf rechtschaffene Weise erlebt werden können (z. B. Trauer und Furcht). Dies ist ein wichtiger Punkt, der über die Gemütsbewegungen verstanden werden muss.

            Zur Veranschaulichung dieses Punktes könnte die Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen erwähnt werden; eine Trauer, die laut Johannes Brachtendorf[12] in den leidenschaftlichen Erfahrungen, die in den Büchern IV und IX beschrieben werden, unterschiedlich erlebt wurde. Im ersten Fall verlor Augustinus einen großen Freund. Er hatte trotzdem keine glückliche Trauer, weil er sich an das Vergängliche klammerte, das bedeutet, an ein geringeres Gut, als wäre es ein größeres, ewiges und göttliches Gut. Der Philosoph sagt: „O über den Wahnsinn, der die Menschen nicht menschlich zu lieben weiß! O über den törichten Menschen, der das Menschliche nicht mit Maß zu ertragen weiß!“[13].

            Im Gegensatz dazu wurde im neunten Buch die Trauer, die Augustinus über den Tod seiner Mutter Monika empfand, vollständiger durchlebt, auch wenn nach Johannes der Trauer Augustinus um seine Mutter nicht absolut positiv gewesen sei, da „er nicht ausschließlich „wegen“ seiner Mutter geweint habe, sondern auch noch „für“ sie“[14].

            Étienne Gilson seinerseits argumentiert, dass die Rechtschaffenheit der Gemütsbewegungen eine Folge der Zentralität der Liebe ist (die Gemütsbewegungen sind nur direkte Ausdrücke der Liebe des Menschen). Er sagt:

 

Es ist ein Fehler zu glauben, dass es an sich gute oder schlechte Gemütsbewegungen gibt, unabhängig von der Intention, die sie belebt. Alle Menschen, gute oder böse, schmecken sie alle, aber die Guten haben gute Gemütsbewegungen und die Bösen schlechte. Es gibt also gerechten Zorn und legitimes Mitleid, gesunde Ängste und heilige Begierden; alles hängt von der Liebe ab, die sie inspiriert[15]. Ebenso ist es ein Fehler zu glauben, dass es an sich gute oder schlechte Objekte[16] gibt – alle können Anlass zu guten oder schlechten Willen und infolgedessen auch zu lobenswerten oder bedauerlichen Handlungen sein[17].

 

            Nichtsdestotrotz, obwohl sie nicht an sich als gut oder schlecht angesehen werden können, sollte dieser Charakter der Gemütsbewegungen nicht als Neutralität betrachtet werden. Gemütsbewegungen sind nicht neutral, weil die Auffassung der Neutralität setzt streng genommen eine Dualität voraus, da er per Definition die Mitte zwischen zwei gegensätzlichen Extremen ist. Augustinus folgt jedoch nicht der manichäischen Dualität, in der Gott und das Nichtsein unterschiedliche Substanzen haben, auch wenn die Substanz des Nichtseins niedriger als die Substanz von Gott ist. Angesichts davon sind sowie die Gemütsbewegungen, als auch die Dinge, zu denen sie führen, nur vom Standpunkt des Willens aus zu berücksichtigen, der sie bewegt, niemals von einer inkonsistenten Neutralität aus. Aus diesem Grund ist die Einheit, die zwischen rechtschaffenen Gemütsbewegungen und solchen, die nicht vom guten Willen inspiriert sind, gebildet wird, weniger vollkommen als diejenige, die ausschließlich aus rechtschaffenen Gemütsbewegungen gebildet wird.

            Eine weitere wichtige Facette der Affekte muss hervorgehoben werden: Sie dienen als Nahrung für das Herz (cor) des Menschen, das als „Sitz der Gedanken und Leidenschaften“[18] angesehen werden kann. So verändert sich der Geschmack dieser Nahrung je nach ihrer Vollkommenheit – und so ist eine faule/bittere Nahrung eine vom Bösen verunreinigte Gemütsbewegung, während eine vollkommene/süße Nahrung, die den Namen Liebe (caritas) erhält, sich auf eine von der Wahrheit (vom Guten, vom Sein) erfüllte Gemütsbewegung bezieht. Mit anderen Worten, der Inhalt der Gemütsbewegungen, die als Nahrung verstanden werden, verweist auf die Vollkommenheit, und eine absolut lasterhafte Leidenschaft ist einfach leer (ohne Inhalt), da das Böse als Abwesenheit des Seins, als Beraubung des Guten (privatio boni) verstanden wird, und zwar aufgrund des Arguments der Verderbung: Das absolute Böse läßt sich nicht verderben, denn das Verderben bringt Schaden, und das absolute Böse hat nichts zu verlieren und keine Verschlechterung zu erleiden[19].

            Ein weiterer Aspekt der Gemütsbewegungen ist ihre Klarheit (serenitas). Wenn Augustinus auf sein Herz trifft, das von schädlicher Begierde beeinflusst ist, verliert er die Kraft, zwischen dem Wahren und dem Falschen zu unterscheiden. Die Leidenschaften sind also eng mit der Urteilskraft verbunden, die je nach dem Willen, der die Affekte selbst inspiriert, verschlechtert oder verbessert wird. Um die Realität der Wahrheit gemäß zu sehen, muss der Mensch aufgrund dessen seine Gemütsbewegungen gereinigt haben; andernfalls werden die lasterhaften Gemütsbewegungen dazu führen, dass der Mensch die Realität auf eine inkonsistente Weise versteht und nicht zwischen dem Wahren und dem Falschen unterscheidet.

            Schließlich argumentiert Augustinus in Buch X[20], dass Gott im Gedächtnis sein muss, weil wenn er sich nicht an Gott erinnern würde, könnte er ihn nicht suchen. Demzufolge ist die Erinnerung an Gott (memoria Dei) diejenige, die es ermöglicht, einen Weg zu ihm hin zu organisieren.

 

4 BEISPIEL FÜR DIE FUNKTIONSWEISE DES ERINNERNS AN DIE GEMÜTSBEWEGUNGEN INNERHALB DER CONFESSIONES

 

Betrachten wir nun ein Beispiel für die Funktionsweise der Erinnerung an die Gemütsbewegungen, nämlich den Diebstahl von Birnen (Buch II).

            Als der Philosoph 16 Jahre alt war, stahl er eines Nachts in Begleitung anderer Jugendlicher Birnen wegen des Verbrechens an sich. Das heißt, aus dem falschen Vergnügen heraus, eine schlechte Tat zu begehen. Diese Freude am Bösen stellt einen Meilenstein in den Studien über die Sünde dar, da die Sünde zuvor als ein Wunsch nach einem geringeren Gut auf Kosten eines größeren Gutes berücksichtigt wurde. Die Jugendlichen strebten jedoch nicht nach einem geringeren Gut. Was sie in Wirklichkeit wollten, war die Leere der schlechten Tat, die sie begangen hatten: Sie begehrten das Böse[21].

            Es wird auch behauptet, dass er die Sünde nicht allein begangen hat, sondern dass er sie nur begangen hat, weil er in Gesellschaft war; es gibt demnach eine soziale Dimension in der Ethik. Oder, wie erwähnt wird: „Süß ist auch die Freundschaft der Menschen durch das teure Band, das viele Seelen vereint“[22] .Man kommt deswegen zu dem Schluss, dass die Freundschaft eine Einheit ist, die die Gemütsbewegungen der Freunde (oder Freundinnen) entweder zur Sünde oder zur Tugend lenkt, je nachdem, wie wahrhaftig (gut) sie ist.

            Neben dem christlichen Bezug auf die verbotene Frucht findet sich in dieser Erzählung auch eine Anspielung auf die Metapher von der Erinnerung an die Gemütsbewegungen. Der folgende Satz verdeutlicht diese Absicht und Bedeutung, insbesondere im Ausdruck „so wurde es mir doch nur durch die Sünde gewürzt“, der den Geschmack der Früchte mit dem Geschmack der Gemütsbewegungen verbindet, die die Jugendlichen zum Vergehen geführt haben: „Denn das abgepflückte Obst warf ich hinweg, und die Speise, die mich ergötzte, war einzig und allein die Sünde. Aß ich auch etwas davon, so wurde es mir doch nur durch die Sünde gewürzt“[23]. Auf Grund davon kann die Tatsache, dass die Jugendlichen die Birnen gestohlen und gegessen haben, metaphorisch die Funktionsweise der Gemütsbewegungen widerspiegeln, die sowohl (a) als Nahrung für die Seele dienen und den Menschen daher (wahrhaftig oder fälschlicherweise) sättigen können, als auch (b) Anlass für eine unethische Handlung sein können.

            Über die Funktionsweise der Affekte als Nahrung kann man sagen, dass die Frucht sogar dazu dienen kann, den körperlichen Hunger des Menschen zu erfüllen, aber nicht auf wahre Weise das Herz (den Sitz der Gedanken und Gemütsbewegungen) derjenigen sättigt, die die Frucht nicht für ihren Inhalt wollen, von dem ihr wahrer Geschmack entstammt, sondern für das Vergehen. Die Fähigkeit des Affekts, als geistige Frucht verstanden, den Geist zu sättigen, hängt also von der Qualität des Willens des Menschen ab – oder, anders ausgedrückt, von seiner Rechtschaffenheit.

            So wie die Frucht Anlass zu guten oder nicht guten Taten sein kann, so können es auch die Gemütsbewegungen sein. Folglich spiegelt eine Freundschaft, da sie eine Einheit zwischen Seelen ist, einen weiteren Charakter des Affekts wider: den, die Affekte anderer Menschen beeinflussen zu können und von ihnen beeinflusst zu werden. Dies lässt sich aus der Tatsache ableiten, dass die Freundschaft dazu führt, dass die Freunde (oder Freundinnen) einen gemeinsamen Willen haben, einen gemeinsamen Affekt, der sie vereint und in eine gemeinsame Richtung führt, wie bereits erwähnt. Oder, wie Augustinus später aussagt: „Mit fester Zuversicht legte er das Bekenntnis des wahrhaftigen Glaubens ab und alle wollten ihn in ihr Herz hineinziehen, und ihre Liebe und ihre Freude waren die sie umschlingenden Arme“[24]. In der Tat verlangt diese Entrückung (rapere) anderer Menschen logischerweise die grundsätzliche Möglichkeit der interaffektiven Beeinflussung oder, sozusagen, dieses Austauschs der Affekte.

            Die Episode wird mit dem Gefühl der Reue in Erinnerung gerufen und erzählt, obwohl sich der junge Augustinus und seine Freunde im Moment der Tat über das Vergehen freuten, und dann bedankt er sich bei Gott für diese Funktionsweise des Erinnerns an die Gemütsbewegungen. De facto, so funktioniert die Erinnerung an die Gemütsbewegungen, mit ihrer Hilfe ist es möglich, in einem einzigen Moment zwischen den Gemütsbewegungen, die vom Herzen erfahren werden, und denen, die vom Magen des Geistes erfahren werden, zu unterscheiden. Es ist eines, eine Gemütsbewegung zu erfahren, es ist aber anderes, sich daran zu erinnern, diese Erfahrung gemacht zu haben. In diesem Prozess verliert sich die affektive Intensität und alles, was übrig bleibt, ist ein/e Merkmal/Bezeichnung (notio) oder ein Begriff (notatio), dass erlaubt, den Inhalt der im Gedächtnis aufbewahrten Leidenschaft nachzuvollziehen, ohne dass dieser Inhalt tatsächlich noch einmal gefühlt wird. Das bedeutet, dass Augustinus sich an die Freude über den Diebstahl der Birnen erinnern kann, ohne sich zu freuen, wenn er sich daran erinnert.

            Das Bekenntnis dieser Sünde geschieht mithilfe des Erinnerns an die Gemütsbewegungen und hat das Ziel, ihn die Wahrheit in seinem Herzen klarer erkennen zu lassen, ohne den Mangel an Urteilsvermögen, den er erlebte, als er in böser Absicht handelte. Infolgedessen besteht die Funktion des Erinnerns an die Gemütsbewegungen in diesem Fall darin, die nachträgliche Analyse, Reflexion und Beurteilung der Gemütsbewegungen zu ermöglichen, die die durchgeführte Handlung motiviert haben. Das heißt, sie ermöglicht die leidenschaftliche Veränderung und damit die Transformation der Handlungen, die in der Gegenwart vollzogen werden.

5 DIE METAPHER VOM GEDÄCHTNIS ALS MAGEN DES GEISTES

 

In der Passage X, XIV, 21, stellt Augustinus die Metapher vom Gedächtnis als Magen des Geistes vor. Der Sinn dieser Metapher ist es, die Tatsache zu erklären, dass das Gedächtnis Gemütsbewegungen vergangener Erfahrungen in sich tragen kann, ohne sie deshalb zu fühlen. So können wir uns an vergangene tragische Ereignisse erinnern, ohne traurig zu werden, oder an erlebte Freuden, ohne uns zu freuen.

Diese Frage stellt sich, als Augustinus die umstrittene Tatsache bemerkt, dass das Gedächtnis sich an frühere Gemütsbewegungen erinnern kann (i. e., sie in sich mittels des Gedächtnisses tragen kann), ohne sie zu fühlen, während der Geist gleichzeitig Freude empfindet, spezifisch weil die Freude in ihm ist. Warum geschieht das?

            Im Buch X, XIV, 21, werden die Gründe dafür genannt, dass das eine Merkwürdigkeit ist, die geklärt werden muss. Wenn man nämlich bedenkt, dass „Geist“ und „Gedächtnis“ gewöhnlich als Synonyme angesehen werden – wie man an den Sätzen „Behalte das im Kopf“ und „Behalte das im Gedächtnis“ erkennen kann, die die gleiche Bedeutung haben –, ist es nicht geeignet zu behaupten, dass der Geist und das Gedächtnis unterschiedliche Kräfte sind, wenn man darüber diskutiert, warum sie auf unterschiedliche Weise funktionieren. Die Merkwürdigkeit liegt deswegen allein im Bereich der Geisteskräfte oder, genauer gesagt, in der Funktionsweise dieser Kräfte.

            Laut Conke stellt sich die Lösung dieser Frage folgendermaßen dar:

 

"Gehört das Gedächtnis etwa nicht zum Geiste? [...] Daher ist allerdings das Gedächtnis gewissermaßen der Magen des Geistes [...]. Wenn dem Gedächtnis etwas übergeben wird, was sozusagen auf den Magen übertragen worden ist, so kann es hier nicht bleiben, kann keinen Geschmack erzeugen" (Conf. X, XIV, 21). Genauso wie die Nahrung durch das Wiederkäuen aus dem Magen austritt, treten die Störungen des Geistes (Freude, Trauer, Furcht und Begierde) und die Reflexionen, die wir über sie machen, durch die Erinnerung aus dem Gedächtnis aus. Deshalb erinnert sich das Gedächtnis an die Trauer, ohne traurig zu sein, oder an eine Furcht, ohne sie zu fühlen; denn es wäre ein großes Leid, sich an die Trauer und die Furcht zu erinnern und sie wieder zu fühlen (vgl. Conf. X, XIV, 22). In der Tat verdaut das Gedächtnis, wie der Magen, das, was ihm gut tut, und weist das zurück, was nicht gut ist[25].

 

            So wird dieses Problem durch die Metapher geklärt, dass das Gedächtnis der Gemütsbewegungen wie ein Magen der Seele (venter animi[26]) funktioniert, der es einer Person ermöglicht, sich an eine Gemütsbewegung zu erinnern, ohne sie tatsächlich im Gedächtnis zu fühlen, da die Gemütsbewegungen im Verdauungsprozess (beim Übergang vom Herzen zum Gedächtnis) ihren Geschmack verlieren. Die Nahrungsmittel, die ins Gedächtnis gelangen, behalten so den Klang ihres Namens, gemäß den von den Sinnen des Körpers eingeprägten Bildern/Vorstellungen, sowie ihre Bezeichnungen/Merkmale (notiones) oder Begriffe (notationes), ihre Vollkommenheit an sich geht gleichwohl verloren. Das geschieht durch den Geist selbst, der diese Begriffe im Gefühl seiner erlebten Leiden (per experientiam passionum) fühlt und sie dann dem Gedächtnis anvertraut, oder dieses beherbergt sie, auch wenn sie ihm niemand anvertraut hat[27].

            Im Magen können die vom Gedächtnis enthaltenen Gemütsbewegungen[28] nach ihrer Rechtschaffenheit klassifiziert werden und sollten auf unterschiedliche Weise gelenkt werden. Die Liebe (caritas), ein Terminus, der sich auf den Affekt bezieht, der zur Erfahrung des Transzendenten führt, d. h. auf den vollkommenen/rechtschaffenen Affekt, ist ein größeres Gut, da sie ein ewiges und unverderbliches Gut ist. Darüber hinaus stellt sie die Einheit der Tugenden dar: Immer wenn eine Person nach einer Gemütsbewegung handelt, die auf das Gute gerichtet ist, wird diese Gemütsbewegung alle Tugenden enthalten, die in Übereinstimmung mit dem göttlichen Gesetz notwendig sind. Mit anderen Worten, die rechtschaffene Leidenschaft wäre diejenige, die auf einheitliche und niemals widersprüchliche Weise zur Ewigkeit und zum glücklichen Leben führt.

Bezüglich dieser Art von Gemütsbewegung wird es gesagt: „Ich bin eine Speise der Starken; wachse und du wirst mich genießen. Nicht wirst du mich in dich wandeln, gleich der Speise deines Fleisches, du wirst gewandelt werden in mich“[29]. Folglich muss man „wachsen“ – d. h. die Gemütsbewegungen reinigen, das Verständnis aufklären usw. –, damit die Liebe gekaut werden kann und dann, wenn die Liebe in den Magen gelangt, anstatt sich zu verändern (wie es bei dem Magen und den Nahrungsmitteln des Körpers der Fall ist), die eigene Person verändert.

            In diesem Sinne ist das Herz das Organ, das für die Erfahrung verantwortlich ist, die Gemütsbewegungen zu erleben. Es wird auch als Mund des Denkens (os cogitationis) in Betracht gezogen und hat eine direkte Verbindung zum Denken. Aus diesem Grund könnte man mit Recht behaupten, dass das Denken und die Gemütsbewegungen in der leidenschaftlichen Erfahrung direkt miteinander verbunden sind. Ohne die Gemütsbewegungen gibt es kein Denken, und ohne das Denken gibt es keine Gemütsbewegungen.[30] Als ein Resultat davon läßt es sich behaupten, dass die Erinnerungen an die Gemütsbewegungen mit dem Herzen interagieren.

            Auf dieser Grundlage kann man sagen, dass das Licht, das das Herz erleuchtet, auch den Magen des Geistes erleuchtet (zum „Wachsen“ bringt), weil es erlaubt, die im Gedächtnis vorhandenen Regungen gemäß dem göttlichen Gesetz zu erkennen, und zwar durch ihre Bezeichnung, die in ihm wie in einem Bauch enthalten ist. Das bedeutet auch, dass die Bezeichnung dieser Gemütsbewegungen in Erinnerung gerufen werden kann, um die ethische Handlungen mit Blick auf das Glück frei zu wählen. Tatsächlich beeinflussen die Merkmale nicht nur die Urteilskraft bezüglich des Gedächtnisses, sondern auch der Urteilskraft, die das Herz betrifft. Anders ausgedrückt, frühere affektive Erfahrungen können spätere affektive Erfahrungen beeinflussen.

            Die Transformation der Person, die vom Magen bewirkt wird, geschieht durch den Begriff der Liebe, der im Gedächtnis enthalten ist. Der Grund dafür ist, dass, neben den Bildern/Vorstellungen, die mit diesem Namen verbunden sind und die durch die fünf Sinne gekommen sind, ist der Begriff der Liebe das Einzige, was von der Erfahrung bewahrt wird, eine Regung zu fühlen, die ihren Inhalt/Geschmack verliert, indem es im Gedächtnis enthalten ist. Tatsächlich kommt das Verständnis der Bedeutung der Laute des Wortes „caritas“ z. B. von früheren leidenschaftlichen Erfahrungen zustande, nicht von den Lauten selbst, die es bilden, denn anlässlich dieser Erfahrungen wird der Begriff des Guten, der im Affekt enthalten ist und dem Wort Bedeutung verleiht, aufbewahrt. Da das Verständnis des Gemütsbewegungsvokabulars mit Hilfe von den Begriffen (notationes) durchgeführt wird, ist es nötig, dass man diese Gemütsbewegungen zuvor erlebt hat, damit der zwischenmenschliche Austausch der Gemütsbewegungen stattfinden kann, weil die mit Affekten aufgeladene Kommunikation mittels dieses Wortschatzes geschieht. Auf diese Weise beschränkt sich die persönliche Transformation nicht nur auf die Grenzen der Person, sondern ist auch in der Lage, ihr Umfeld durch den affektiven Austausch zu transformieren.

            Im Unterschied dazu ist die zweite Art von Affekt, die im Gedächtnis enthalten ist, nämlich der lasterhafte Affekt, derjenige, der Widersprüche im Geist[31] erzeugt und die Person auf uneinige Weise mit Blick auf das unglückliche Leben, d. h. auf den geistigen Verfall, führt. Der Mangel an Urteilsvermögen lässt unter der Wirkung dieser Sorte von Affekt Verwirrungen entstehen. Auf diese Weise stellt diese Art von Affekt ein geringeres Gut dar, da sie vergänglich und verdorben/verderblich ist.

            Die Geschwüre, die Magenschmerzen, sind nichts anderes als das Ergebnis des Erinnerns an lasterhafte Gemütsbewegungen, die, als ob sie oberflächlich berühren (tamquam in superficie raderer), das Herz durchdrungen (penetrarer) und in den Magen gelangt sind.[32] Dementsprechend sind die Geschwüre Bezeichnungen vergangener lasterhafter Gemütsbewegungen, die das Herz noch immer beeinflussen und Handlungen in der Gegenwart beeinflussen, indem sie als Brennstoff für die Laster des Geistes dienen.

           Obwohl die Versuchungen der Seele die Klarheit der im Herzen vorhandenen Gemütsbewegungen verringern, d. h. sie verdunkeln, verwischen und sie dadurch schwer zu sehen und zu unterscheiden machen, können sie dennoch dem Weg dienen, zu dem die auf das Gute gerichteten Gemütsbewegungen führen, insofern die Person die Freiheit (libero arbitrio) hat, zu handeln und Entscheidungen zu treffen, die diesen Versuchungen entgegenwirken, indem die Person (1) frühere Erfahrungen, die schädliche Gemütsbewegungen betreffen (Früchte, die sich aus den Versuchungen der Seele ergeben), als Grundlage nimmt, und (2) die Funktionsweise des Gedächtnisses der Gemütsbewegungen nutzt, dass, wie der körperliche Magen, das gesamte Verderben, das dorthin eintritt, beseitigt. Auf diese Weise kann die Bezeichnung der lasterhaften Gemütsbewegungen als zukünftiges Heilmittel[33] (ad medicinam futuram) dienen – das bedeutet, zu der Reinigung, der Transformation.

            Daher hat das Erinnern an die Gemütsbewegungen die Funktion, die Affekte gemäß der Tugend zu neigen, auch wenn verdorbene Handlungen vorgenommen werden. Das geschieht durch seine Funktionsweise als Magen des Geistes: Nachdem das Herz die Störung der Seele erfahren hat, nimmt das Gedächtnis ihren Inhalt weg und bewahrt ihren Begriff (notatio) auf, die den affektiven Worten und Erinnerungen Sinn verleiht, ohne dass das Herz sich wieder beunruhigen muss.

6 SCHLUSSFOLGERUNG

 

Der Zweck des Erinnerns an die Gemütsbewegungen ist es, zum Prozess der persönlichen Transformation beizutragen. Dieser Prozess findet statt, wenn das Herz und das Gedächtnis vor Gott gestellt werden[34], mit dem Ziel, die im Geist vorhandene Unvollkommenheit zu beseitigen[35]. An diesem Ausgangspunkt sollte die Person beginnen, die Erfahrung der Gemütsbewegung und alles, was von ihnen in der Kraft des Gedächtnisses enthalten ist, in Harmonie mit der Liebe zu nutzen (in der Richtung der Erfahrung des Transzendenten). Hier kommt als Folge dessen ein Zusammenspiel zwischen den verschiedenen Gemütsbewegungsbegriffen ins Spiel. Ihr Entstehen durch komplexe Gemütsbewegungserfahrungen führt dazu, dass ihre Begriffe unterschiedlich sind, je nach der Rechtschaffenheit und der jeweiligen Art der Gemütsbewegung (sowohl die Hauptgemütsbewegungen wie Freude, Furcht, Trauer und Begierde, als auch die Nebengemütsbewegungen wie Angst und Frustration). Solche Erfahrungen beziehen nicht selten andere Personen ein, wie das Beispiel des Birnendiebstahls zeigt.

            Ein weiterer Punkt, der sich hervorheben lässt, ist, dass es möglich ist, dass von einer einzigen Gemütsbewegungserfahrung nichts übrig bleibt als „die liebende Erinnerung mit, gleichsam den Duft einer ersehnten Speise, die ich noch nicht genießen konnte“[36], doch selbst wenn die Person nicht gleich beim ersten Mal erfolgreich in ihren Versuchen ist, Gutes zu tun, ist es eine Tatsache, dass der Versuch nicht umsonst war, insofern „er das Erlebnis als Heilmittel für die Zukunft seinem Gedächtnis einprägte“[37]. Angesichts davon werden neue affektive Begriffe kumulativ zur Verfügung stehen, um bei der persönlichen Veränderung zu helfen, bis diese abgeschlossen ist. Diese Öffnung für den Irrtum eröffnet Raum für die Wirkungen der göttlichen Barmherzigkeit und der menschlichen Tugenden, wie z. B. der Demut.

            Auch die Zeit spielt eine grundlegende Rolle bei der Veränderung, denn „nicht müßig sind die Zeiten, nicht fruchdos rollen sie dahin im Strombett unserer Sinneswahrnehmung; Wundersames wirken sie im Gemüte“[38]. Zu diesen wundersamen Dingen gehört zweifellos die Heilung der Krankheit der Seele, insofern die Bewunderung entsteht aus der Betrachtung der Schönheit, und die Schönheit ist absolut mit dem göttlichen Gesetz verbunden, das zur Heilung führt.

            Ein weiterer wichtiger Aspekt der persönlichen Transformation ist das Bekenntnis, das dem Buch von Augustinus seinen Titel gibt. Das Bekenntnis bezieht sich auf die vollständige und gutgläubige Anerkennung der zuvor begangenen Sünde. Wie bereits gesagt wurde, verdirbt die Sünde tatsächlich die Gemütsbewegungen und hat deshalb eine enge Beziehung zum Denken. Aus diesen Gründen sind die Gemütsbewegungen im Prozess des Bekenntnisses präsent. In der Tat wird behauptet, dass „So ist denn mein Bekenntnis vor deinem Angesicht, mein Gott, stumm und doch nicht stumm. Die Stimme schweigt, laut ruft das Herz“[39]. Daraufhin kann das Bekenntnis als Folge der Komplexität der Gemütsbewegungserfahrungen und des vorhergehenden Zitats als ein kompliziertes Gespräch mit Gott in Betracht gezogen werden, das im Sitz des Denkens und der Affekte (im Herzen) stattfindet[40].

            Wenn das Bekenntnis beendet ist, wird das Herz geleert[41]. Das soll besagen, dass die Affekte aufhören, bitter zu sein, und die Person zu einem „trockenen Land“ wird, dass würdig ist, die göttliche Rechtschaffenheit zu tragen. Wenn das geschieht, werden die Affekte süß. Wenn beide Arten von Affekten gut geführt und unterschieden werden, dann findet die persönliche Transformation statt. Diese Transformation, die Heilung der Krankheit der Seele, ist fester und besser als die Heilung von den Krankheiten des Körpers[42]. Darüber hinaus kann diese Rückkehr zur Einheit, die Rückkehr zu Gott, nur erreicht werden, wenn der Mensch versucht, nicht mit den Augen des Fleisches[43] zu verstehen, sondern mit den Augen des Herzens, indem er sich zu sich selbst zuwendet, und erfordert die leidenschaftliche Erfahrung.

 

DANKSAGUNG

Bitte fügen Sie diese Informationen über die Stipendien von FAPESC und CNPQ der Danksagung hinzu, da es für mich, als Stipendiat, erforderlich ist:

Dieser Artikel ist das Ergebnis einer wissenschaftlichen Einführungsforschung, die mit Unterstützung des Brasilianischen Conselho Nacional de Desenvolvimento Científico e Tecnológico (CNPq) durch ein PIBIC-Stipendium durchgeführt wurde, unter Beratung von Prof. Dr. Mariana Paolozzi Sérvulo da Cunha (UFSC).

HINWEISE

Augustinus. A. Bekenntnisse. Übers. und hrsg. von Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch. Ditzingen: Reclam, 1989.

Augustinus. A. Confessiones/Bekenntnisse. Zweisprachige Edition. Direkte Übers. von Wilhelm Thimme. Düsseldorf/Zürich: Artemis & Winkler, 2004.

Augustinus, A. Confissões. Direkte Übers. ins Brasilianische Portugiesisch und Vorwort von Lorenzo Mammì. São Paulo: Penguin Classics/Companhia das Letras, 2017.

Augustinus, A. Opera Omnia. Nuova Biblioteca Agostiniana. Città Nuova Editrice. Zugänglich auf: http://www.augustinus.it. Zugriff in: 22 Apr. 2025.

Brachtendorf, J. Confissões de Agostinho. Direkte Übers. von Milton Camargo Mota. 3.  Ed. São Paulo: Edições Loyola, [2005] 2020. 

Cardoso, I. M. Da humildade à caridade: o “coração” em Santo Agostinho.  Didaskalia, Lisboa, Vol. 47, N. 1, p. 163-181, 2017. Zugänglich auf: http://www.augustinus.it. Zugriff in: 22 Apr. 2025.

Conke, M. S. A questão da memória em santo Agostinho e Freud. Perspectiva  Filosófica, Recife, Vol. 41, N. 1, p. 30-48, 2014. Zugänglich auf: https://periodicos.ufpe.br/revistas/perspectivafilosofica/article/view/230241. Zugriff in: 22 Apr. 2025.

Cunha, M. P. Agostinho: rumo a uma razão afetiva. Dissertatio, Pelotas, Vol. 40, p. 39-47, 2014. Zugänglich auf: https://periodicos.ufpel.edu.br/ojs2/index.php/dissertatio/article/view/8527/5551. Zugriff in: 22 Apr. 2025.

Gilson, E ([1943] 2010). Introdução ao Estudo de santo Agostinho. 2. Ed. Direkte Übers. von Cristiane Negreiros Abbud Ayoub. São Paulo: Paulus.

Kann, C (2009). Erinnern und Vergessen. Perspektiven der memoria bei Augustinus. In: von Hülsen-Esch, A. (Hrsg.) Medien der Erinnerung in Mittelalter und Renaissance. Düsseldorf: Droste Verlag, S. 9-33.

Silva, N. C (2018). As paixões da alma e as vicissitudes do desejo em Santo  Agostinho. Curitiba: CRV.

BEITRAG DER AUTOR:INNEN

1 – Alisson Brandemarte Morreira

Master's Student at Federal University of Fronteira Sul

https://orcid.org/0000-0003-4270-982X alisson.b.moreira.nacional@gmail.com

Contribution: Writing – review & editing

 

ZITIERHINWEIS

Morreira, A. B. Das Erinnern an die Gemütsbewegungen in den Bekenntnissen Augustinus. Voluntas: International Journal of Philosophy, Santa Maria - Florianópolis, v. 16, n. 2, 91689, 2025. Available at: https://doi.org/10.5902/2179378691689. Accessed on: day, abbreviated month, year.

 



[1] Der Terminus memoria wird in diesem Artikel sowohl als „Gedächtnis“, als auch als „Erinnern“ oder „Erinnerung“ überstetzt. Die Begründung für diese Auswahl kann hier gefunden werden: Kann, C. Erinnern und Vergessen. Perspektiven der memoria bei Augustinus, S. 12.

[2] Dass Gott die Quelle des Lebens ist, wird gesagt: „die Quelle des Lebens, die bei dir ist“ (Ps 36 (35), 10; Augustinus, A. Confessiones, IX, X, 23. Übersetzung von Kurt Flasch & Burkhard Mojsisch). Über das sterbliche Leben des Menschen: „[…] tanta vis est memoriae, tanta vitae vis est in homine vivente mortaliter!“ (Augustinus, A. Confessiones, X, XVII, 26).

[3] „Und was frage ich, an welchem Orte des Gedächtnisses du wohnst, als wenn wirklich Räume daselbst wären?“ (Augustinus, A. Confessiones, X, XXV, 36. Übersetzung von Kurt Flasch & Burkhard Mojsisch).

[4] Vgl.: Augustinus, A. Confessiones, I, II, 2. Übersetzung von Kurt Flasch & Burkhard Mojsisch.

[5] Die Beschreibung „Eine große Kraft ist das Gedächtnis, ich weiß nicht was, das mir einen heiligen Schauder erregt, mein Gott, eine tiefe und unbegrenzte Vielheit-, und so ist meine Seele, und so bin ich selbst“, vorhanden in Augustinus, A. Confessiones, X, XVII, 26 (Übersetzung von Kurt Flasch & Burkhard Mojsisch), kann so interpretiert werden, dass: (1) das Gedächtnis, der Geist und die Person den tiefen und unendlichen vielfältigen Charakter teilen; als auch so, dass (2) der Geist das Gedächtnis wäre und wiederum der Geist die Person wäre.

[6] Vgl.: Augustinus, A. Confessiones, VI, I, 1; Joel 4,14.

[7] Vgl.: Augustinus, A. Confessiones, XI. Übersetzung von Kurt Flasch & Burkhard Mojsisch, 1989.

[8] Augustinus, A. Confessiones, X, VIII, 12.

[9] Augustinus, A. Confessiones, X, XIV, 22. Übersetzung von Kurt Flasch & Burkhard Mojsisch. Siehe auch die Anmerkung 37 von Lorenzo Mammì.

[10] Augustinus, A. Confessiones, IV, XIV, 22. Übersetzung von Kurt Flasch & Burkhard Mojsisch.

[11] Augustinus, A. Confessiones, V, XII, 22. Meine Übersetzung.

[12] Vgl.: Brachtendorf, J. Confissões de Agostinho. Siehe insbesondere die Analyse des Autors zu den Büchern IV (S. 103-116) und IX (S. 233-248).

[13] Augustinus, A. Confessiones, IV, VII, 12. Übersetzung von Kurt Flasch & Burkhard Mojsisch.

[14] Vgl.: Brachtendorf, J. Confissões de Agostinho. Siehe insbesondere die Analyse des Autors zu den Büchern IV (S. 103-116) und IX (S. 233-248). Meine Übersetzung.

[15] Augustinus, A. De civitate Dei, XIV, 8-9; t. 41, Sp. 411-417.

[16] Es ist wichtig zu erwähnen, dass Augustinus diesen Ausdruck nicht verwendet, sondern nur Ausdrücke wie res (Dinge), ista (diese Dinge) und huius (dessen, deren). Der Terminus ‚Objekt‘ gehört zur Moderne.

[17] Gilson, E. Introdução ao estudo de Santo Agostinho, S. 259. Meine Übersetzung.

[18] Vgl.: Cardoso, I. M. Da humildade à caridade: o “coração” em Santo Agostinho, S. 164. Meine Übersetzung.

[19] Das vollständige Argument findet sich in Augustinus, A. Confessiones, VII, XII, 18. Übersetzung von Kurt Flasch & Burkhard Mojsisch.

[20] Augustinus, A. Confessiones, X, XXIV-XXV, 35-36.

[21] Für eine ausführlichere Erklärung: Brachtendorf, J. Confissões de Agostinho, S. 75-82.

[22] Augustinus, A. Confessiones, II, V, 10. Übersetzung von Kurt Flasch & Burkhard Mojsisch.

[23] Augustinus, A. Confessiones, II, VI, 12. Übersetzung von Kurt Flasch & Burkhard Mojsisch.

[24]  „Pronuntiavit ille fidem veracem praeclara fiducia, et volebant eum omnes rapere intro in cor suum. Et rapiebant amando et gaudendo: hae rapientium manus erant“ Augustinus, A. Confessiones, VIII, II, 5. Übersetzung von Kurt Flasch & Burkhard Mojsisch.

[25] Vgl.: Conke, M. S. A questão da memória em santo Agostinho e Freud, S. 37-38. Übersetzung der Confessiones von Kurt Flasch & Burkhard Mojsisch. Die Übersetzung Conkes Textes ist meine.

[26]Nimirum ergo memoria quasi venter est animi“ (Confessiones, X, XIV, 21). Laut Conke und Almeida „kann der Terminus venter ‚Bauch‘, ‚Magen‘, ‚Gebärmutter‘, ‚Darm‘, und ‚Eingeweide‘ bedeuten. Der Ausdruck ‚venter est animi‘ wiederum erreichte den heiligen Augustinus durch das Werk De Paradiso (3.12) des heiligen Ambrosius (337-397)“. Vgl.: Conke, M. S. A questão da memória em santo Agostinho e Freud. Meine Übersetzung.

[27] Augustinus, A. Confessiones, X, XIV, 22. Übersetzung von Kurt Flasch & Burkhard Mojsisch.

[28] Ich bitte die Leser:innen, die räumliche Analogie des Gedächtnisses im besonderen Fall des Erinnerns an die Gemütsbewegungen zu beachten. Die Gemütsbewegungen sind Dinge, die sich im Raum des Gedächtnisses befinden, der zum Inneren der Person, zur Seele (animus), gehört.

[29] Augustinus, A. Confessiones, VII, X, 16. Übersetzung von Kurt Flasch & Burkhard Mojsisch.

[30] Für eine tiefere Analyse siehe: Cunha, M. P. Agostinho: rumo a uma razão afetiva, S. 39-47.

[31] Augustinus könnte nicht als Vorläufer des Dialetheismus berücksichtigt werden, auf Grund davon, dass die Wahrheit für ihn ausschließlich an die Konsistenz gebunden sei. Ein Dialetheist wäre dagegen jemand, die/der glaubt, dass Paradoxien in der Realität existieren und wahr seien.

[32] Zwei Zitate passen hierher: [1] „ich war ohne Sehnsucht nach unvergänglicher Speise, doch nicht, weil ich etwa erfüllt war von ihr, sondern je leerer ich war, desto mehr widerstand sie mir. Deshalb siechte meine Seele, und in ihrem Elend warf sie sich hinaus in die Außenwelt, gierend nach sinnlicher Reizung.“ (Augustinus, A. Confessiones, III, I, 1); und [2] „Daher stimmt meine Liebe zum Schmerz, doch nicht solchen Schmerzen, die mich tiefer durchdringen, war es doch keineswegs mein Wunsch, das Geschehene selbst zu erleiden, nur oberflächlich wollte ich von der gehörten Dichtung berührt werden“ (Augustinus, A. Confessiones, III, II, 4). Übersetzungen von Kurt Flasch & Burkhard Mojsisch.

[33] Augustinus, A. Confessiones, VI, IX, 14. Übersetzung von Wihelm Thimme.

[34] „Offen vor dir liegt mein Herz und meine Erinnerung“ (Augustinus, A. Confessiones, V, VI, 11. Übersetzung von W. Thimme).

[35] „Du aber, Herr, […] laß nicht im Stich, was du begonnen, und vollende, was noch unvollkommen ist an mir“ (Augustinus, A. Confessiones, X, IV, 5. Übersetzung von W. Thimme).

[36] Augustinus, A. Confessiones, VII, XVII, 23. Übersetzung von W. Thimme.

[37] Augustinus, A. Confessiones, VI, IX, 14. Übersetzung von W. Thimme.

[38] Augustinus, A. Confessiones, IV, VIII. Übersetzung von W. Thimme.

[39] Augustinus, A. Confessiones, X, II, 2. Übersetzung von W. Thimme.

[40] „»Siehe, du hast Lust zur Wahrheit, denn wer sie tut, kommt ans Licht.« Ich will sie tun, in meinem Herzen, indem ich vor dir mein Bekenntnis ablege, aber auch mit meinem Griffel vor vielen Zeugen“ Augustinus, A. Confessiones, X, I, 1. Übersetzung von W. Thimme.

[41] „[...] und hast mit deiner Rechten bis zum Grunde meines Herzens den Abgrund des Verderbens ausgeschöpft“ (Augustinus, A. Confessiones, IX, I, 1. Übersetzung von W. Thimme). Dieser Satz bezieht sich auf die biblischen Konzeptionen von „mit Bitterkeit vergifteter Erde“ und „trockener Erde“, die in Buch XIII ausführlicher dargestellt werden.

[42] Augustinus, A. Confessiones, V, X, 18. Übersetzung von W. Thimme.

[43] Augustinus, A. Confessiones, VI, XVI, 26. Im Werk De Ordine erläutert Augustinus diese Frage der Rückkehr zur Einheit ausführlicher, die auch in den Confessiones vorhanden ist, wie die Idee der Distanz und Annäherung an sich selbst, die einen stoischen Ursprung hat. Übersetzung von W. Thimme.