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Universidade Federal de Santa Maria

Voluntas, Santa Maria, v.12, e08, Ed. Especial: Schopenhauer e o pensamento universal, 2021

DOI: 10.5902/2179378666969

ISSN 2179-3786

Submissão: 29/07/2021 • Aprovação: 27/09/2021 • Publicação: 28/12/2021

1 DIE ETHISCH-METAPHYSISCHE GRUNDLEGUNG DER BEGRIFFE UNRECHT UND RECHT. 1

2 DIE GENESIS DES STAATES ALS PROSPEKTIVE WILLENSNEGATION.. 1

3 EWIGE GERECHTIGKEIT UND INDIVIDUELLE WILLENSVERNEINUNG.. 1

FAZIT. 1

VERWEISE. 1

 

 

 Schopenhauer e o pensamento universal

Der Staat und die Begriffe des Rechts und Unrechts in Schopenhauers „politischer Metaphysik“

The State and the Concepts of Right and Wrong in Schopenhauers “political metaphysics”

Raphael Gebrecht IÍcone

Descrição gerada automaticamente

I Universität Duisburg-Essen, NRW, Germany

 ZUSAMMENFASSUNG

 Die vorliegende Abhandlung versucht die systematischen und ontologischen Gründe für Schopenhauers politische Philosophie darzulegen, indem insbesondere auf die Verbindung von kontraktualistischen und metaphysischen Elementen in seiner Staatskonzeption eingegangen wird. Dabei wird sich zeigen, dass Schopenhauers Begriffe des „Rechts“ und „Unrechts“ innerhalb eines institutionellen Gesamtrahmens nicht ohne den systematischen Horizont der „Welt als Wille und Vorstellung“ begriffen werden können, der insbesondere auf der kantischen Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich beruht. Die immanenten Implikationen seiner metaphysischen Annahmen sollten daher als Grundlage für staatliches Handeln und der damit verknüpften Funktion von Autorität, die sich in institutionalisierter Strafe und anderen Einschränkungen niederschlägt, mitbedacht werden, insofern sie letztlich als phänomenale Manifestationen eines universellen Substrats zu begreifen sind, das Schopenhauer als „Wille“ bestimmt.

 Schlüsselwörter: Staat; zeitliche und ewige Gerechtigkeit; Recht und Unrecht

ABSTRACT

 This paper tries to explain the systematic and ontological reasons for Schopenhauer's political philosophy, especially focussing on the relation between contractualialistic and metaphysical elements within his conception of the state. In this context, the aim of this paper consists in showing that Schopenhauer´s concepts of „right“ and „wrong“ within an institutional framework cannot be understood without the systematic context of „The world as Will and Representation“, in particular the crucial kantian distinction between appearences and the thing in itself, which Schopenhauer identifies as „Will“. The immanent implications of his metaphysical assumptions should therefore be regarded as the basis for public behavior and the general functionality of authority, which turns real existing states, penal codes and other institutional objecitvations into phenomenal manifestations of one universal substrate, which is Schopenhauer´s Will to live.

Keywords: State; Temporal and eternal justice; Right and wrong

Schopenhauers politische Theorie wird heute sowohl in Fachkreisen als auch in allgemeineren ethischen Debatten selten erörtert. Dies mag zum einen daran liegen, dass Schopenhauers Ethik prinzipiell als apolitisch oder individualethisch verstanden wird, zum anderen, weil sich heutige Ethikkonzeptionen aufgrund ihrer schlichten Vielfalt und Diversität in einen gewissen Relativismus zu flüchten scheinen, der keine prinzipielle Begründung menschlichen Wollens und Handelns, sei dies politisch oder individuell, mehr anstrebt. Derartig universelle Begründungsversuche wie sie in der philosophischen Tradition im Grunde seit Platon unternommen wurden, geraten heutzutage öfters unter „Metaphysikverdacht“, der vor dem Hintergrund verschiedenster und einander ausschließender Ethikkonzeptionen kapitulieren müsse. Daher scheinen heute hauptsächlich Bemühungen der angewandten Ethik und damit verknüpfte lebenspraktische Fragen im Mittelpunkt zu stehen, die ihre spezifisch politisch-ethische Relevanz erst durch neuere technische Entwicklungen oder kulturelle Errungenschaften herausgebildet haben. Die dadurch entstandenen Mischdisziplinen der Bioethik, der Medizinethik oder auch der ökologischen und ökonomischen Ethik haben sicherlich zur Detailklärung und Vervielfältigung von Verhaltensfragen geführt, aber kaum zur Klarheit in Grundsatzfragen der Ethik beigetragen.[1]

Insbesondere Schopenhauers politische Theorie und deren Begründung in einer ethisch zu verstehenden praktischen Metaphysik könnte zur Klärung solcher Grundsatzfragen von besonderem Orientierungswert sein. Zum einen, weil Schopenhauer seine Staatstheorie in eine metaphysisch-universelle Begründung einbindet, die die politische Genesis sämtlicher Staatsformen in den Grundzügen seiner Ethik transzendentalphilosophisch entfaltet. Zum anderen, weil auch das Individuum in seiner konkreten Subjektivität samt seinen Ängsten und Sorgen in diesen Erörterungen nicht außer Acht gelassen wird. Denn Schopenhauer begründet die Genesis des Staates aus einer Kombination von willensmetaphysischen und kontraktualistischen Elementen, die an Hobbes und Rousseau anknüpfen, wobei letztere in der Schopenhauer-Forschung häufig als zentrale Momente seiner Staatstheorie angesehen werden. Demgegenüber soll dieser Vortrag zeigen, dass der Staat in Schopenhauers Theorie letztlich aus den ethisch zu verstehenden Begriffen Recht und Unrecht deduziert wird, deren eigentliche Bedeutung nur willensmetaphysisch entfaltet werden kann und in diesem Sinne als universell verstanden werden muss.

Dementsprechend vollzieht sich diese Erörterung in drei Teilen. Der erste Teil beschäftigt sich mit dem metaphysischen Ursprung der Begriffe Recht und Unrecht und der damit einhergehenden Umdeutung der traditionellen paradigmatischen Ontologie, die Schopenhauer auf transzendentalkritischer Grundlage vollzieht und in eine universelle Grundlegungstheorie von Staatlichkeit, jenseits raum-zeitlicher Mannigfaltigkeit überführt. Der zweite Teil zeigt, wie Schopenhauer auf dieser Basis die Genesis des Staates als Vertragstheorie entwickelt, die für die konkrete Erscheinungswelt von einem hobbesianisch anmutenden Szenario ausgeht, in dem der Staat als vernünftiges Resultat egoistischer Partikularinteressen verstanden wird. Der letzte Teil zeigt, inwiefern Schopenhauer in letzter Instanz im Unterschied zu Hegel und Platon eine Individualethik bevorzugt, in der selbst ein optimal staatlich erzeugtes „Schlaraffenland“ lediglich eine Form der Willensbejahung darstellt, die letztlich durch das „willenlose[ ] Subjekt“ (W I, § 34, S. 234f.)[2] als wahrhafter Träger ethischer Wertprädikate überwunden werden muss.

1 DIE ETHISCH-METAPHYSISCHE GRUNDLEGUNG DER BEGRIFFE UNRECHT UND RECHT

Wie bereits angedeutet fundiert Schopenhauer seine politische Theorie in einer ethisch-metaphysischen Betrachtung der Welt als Wille. Das Wesen dieses Willens wurde bereits in den vorhergehenden Büchern (1-3) der Welt als Wille und Vorstellung über die analogische Übertragung unseres voluntativen Selbstbewusstseins auf die individuierten Erscheinungsformen der Welt als Vorstellung erörtert und fand in der intuitiven Typologisierung der Ideen seinen höchsten Ausdruck. Die Welt kann dementsprechend in ihrem ursprünglichen Wesen idealtypisch als Wille charakterisiert werden, der als metaphysisches Prinzip das Wesen der Welt, soweit diese nicht Erscheinung ist, konstituiert. Entgegen unseres alltäglichen sowie traditionellen Sprachgebrauchs ist dieser Wille als nicht-intentionale philosophische Konkretion des kantischen Dinges an sich jenseits vorkritischer Ontologietypen zu denken und als hermeneutische Deutung sowohl des menschlichen als auch des kosmischen Daseins zu begreifen. Durch diese und die folgenden Überlegungen radikalisiert Schopenhauer Kants ontologische Auffassung „Sein ist offenbar kein reales Prädikat“[3], sondern Positionierung bezüglich eines Erkenntnisvermögens und setzt, darin Schelling[4] folgend, Sein mit Wollen, Wollen aber mit Leiden gleich. Sowohl für Kant als auch für Schopenhauer war hierbei entscheidend, „Sein“ als reale Sachhaltigkeit nicht mehr mit ontologischer Vollkommenheit gleichzusetzen oder gar wie Leibniz und Wolff sogar noch graduell von einem paradigmatisch höchsten Seienden (Gott) abzuleiten, sondern das Seinsverständnis der traditionellen Ontologie umzukehren. Der voluntaristisch zu verstehende Begriff des Seins wird nach Schopenhauers Konzeption als Mangel begriffen, dessen Negation zu einer Bejahung des Willens in der Erscheinungswelt führt, die erst durch die Erkenntnis des Willens als Ding an sich zu einer Verneinung des Willens zum Leben führen kann.[5] Die Negativität des Willens geht nach Schopenhauer schon aus dessen analytischer Begriffsbestimmung hervor, da jede Form voluntativer Intentionalität per definitionem versuche, einen Mangelzustand zu überwinden. Dementsprechend zeigt die sich in Raum und Zeit darstellende Welt als Resultat des Willens aus metaphysischer Perspektive auch genauso wie sie sein soll, weil der sie prinzipiierende Wille sie nicht anders gewollt hat. Als Resultat des Willens, der sich im Grunde in Allem was lebt deutlich ausspricht, ist die negative Seinsweise der Welt auch gerechtfertigt. Schopenhauers atheistische Willensmetaphysik übernimmt daher auch eine ähnlich der religiösen Theodizee-Konzeption gelagerte Rechtfertigungsfunktion für die diesseitigen Zustände, die genau darin besteht, die Welt nicht als Schöpfung eines gütigen Gottes, sondern als Korrelat eines zerstörenden sich immer aufs Neue selbst bejahenden Willens zu interpretieren.[6] Die eigentliche „Erbsünde“ liegt dementsprechend in der individuellen Bejahung dieses Willens, dessen negative Begleiterscheinungen in Kauf genommen werden. Der Mensch erfährt in seinem irdischen Leiden die Folgen seines Tuns und dementsprechend seines Werts, der sich aus der Affirmation des Lebenswillens ergibt:

Will man wissen, was die Menschen moralisch betrachtet im Ganzen und Allgemeinen wert sind; so betrachte man ihr Schicksal im Ganzen und Allgemeinen. Dieses ist Mangel, Elend, Jammer, Qual und Tod. Die ewige Gerechtigkeit waltet: wären sie nicht, im Ganzen genommen, nichtswürdig; so würde ihr Schicksal, im Ganzen genommen, nicht so traurig sein. In diesem Sinne können wir sagen: die Welt selbst ist das Weltgericht. Könnte man allen Jammer in der Welt in eine Waagschale legen, und alle Schuld der Welt in die andere; so würde gewiss die Zunge einstehen. (W I, § 63, S. 456)

Das Leiden des einen reflektiert die Schuld eines anderen, sodass sich die im principium individuationis befangene Ungleichheit zwischen Täter und Opfer als metaphysisches Nullsummenspiel herausstellt. Da nun der Wille als metaphysisches Mangelwesen zu charakterisieren ist, der schlicht um seiner selbst willen zum Dasein drängt und kein höheres teleologisch konzipiertes Ziel verfolgt, spiegeln sich die aus dieser Verfassung hervorgehenden Zustände auch in der diesseitigen Erfahrungswelt. Das Dasein bestimmt sich daher als unendliche Überwindung immer neu auftretender Mangelzustände, die einen unendlichen Leidenszusammenhang produzieren, der das Wesen des Willens zum Leben konstituiert.[7]

Diesen Willen in sich selbst zu bejahen, heißt für das konkrete Individuum schlicht seinen Leib zu erhalten und seine Kräfte dahingehend zu mobilisieren, da sich die Selbstaffirmation des Willens in einem Leib als organisch verfassten Bedürfniskomplex objektiviert. Im Unterschied zum Willen als Ding an sich zeigt sich dessen Objektivation, die phänomenale Welt in Raum und Zeit, daher auch als erscheinende Mannigfaltigkeit, in der sich verschiedene Individuen als widerstreitende Manifestationen des an sich ungeteilten Willens begegnen. Aufgrund der immanent-metaphysischen Interpretation der kantischen Erkenntniskritik findet sich jedes Individuum in Raum und Zeit nur als vereinzelte Erscheinung vor und erblickt die phänomenal eingerichtete Welt als „bloße Vorstellung“ (W I, § 18, S. 150) oder als Konvolut verschiedener Vorstellungsinhalte. Über die im Selbstbewusstsein vermittelte Leiblichkeit ist das an sich seiende Grundprinzip des Willens allerdings nur im eigenen Ich unmittelbar erfahrbar, wodurch sich das Prinzip des Egoismus ergibt. Denn jedem erkennenden Subjekt ist der eigene Lebenswille unmittelbar gegeben, während die übrige Welt nur mittelbar und innerhalb der Grenzen unseres Erkenntnisapparats erscheint, wodurch der Wille als vitaler Motor des Lebens von allen Individuen nur am eigenen Leib erfahren wird. Die dadurch vermittelten Triebe und Ängste werden gegenüber den Nöten anderer priorisiert und führen zu der egoistischen Haltung, die sich dann in den beobachtbaren Konfrontationen der gegeneinander agierenden Individuen entlädt. Die Wurzel des individuellen Egoismus beruht daher ebenfalls auf Schopenhauers Willensmetaphysik, die im Verbund mit Kants transzendentalphilosophischer Grundlegung dazu führt, dass der Wille jedem Einzelnen nur am eigenen Leib zugänglich wird, während der Makrokosmos als

Objektivation des Willens das principium individuationis zur Form hat und dadurch der Wille in unzähligen Individuen sich auf gleiche Weise erscheint und zwar in jedem derselben nach beiden Seiten (Wille und Vorstellung) ganz und vollständig. Während also jedes sich selbst als der ganze Wille und das ganze Vorstellende gegeben ist, sind die übrigen ihm zunächst nur als seine Vorstellungen gegeben; daher geht ihm sein eigenes Wesen und dessen Erhaltung allen anderen zusammen vor.“ (W I, § 61, S. 432)

Ähnlich wie bei Hobbes führt diese Ausgangslage zu Konflikten,[8] was allerdings nach Schopenhauer nicht als natürliche, sondern als moralische, d.h. den Willen und das darauffolgende menschliche Handeln betreffende Grundlegung der Ethik begriffen werden muss. Denn der Kampf um Ressourcen bedeutet aus philosophischer Sicht, die Verneinung des Willens zum Leben eines anderen. Dadurch wird die von Schopenhauer als legitim erachtete Selbsterhaltung übertreten und Unrecht an anderen begangen, indem ein Individuum seinen Willen über den eines Anderen stellt, wodurch das fremde Individuum als Ganzes negiert wird. Diese Negation des fremden Willens versteht Schopenhauer als Unrecht in moralischem Sinne, da sie sich auf das Handeln eines Individuums und die daraus folgenden Konsequenzen bezieht. Aus der Negation des Unrechts, also der Abwehr einer versuchten Übergriffigkeit, gewinnt Schopenhauer seinen natürlichen Rechtsbegriff, der insofern von Hobbes' Rechtsbegriff abweicht, als er sich aus der apriorischen Willensstruktur ableiten lässt und nicht auf äußere Erfahrungen rekurrieren muss. Schopenhauer akzeptiert zwar die Differenzierung zwischen positivem Recht und Naturrecht in einem präkonstitutionellen Zustand, setzt aber letztlich beide Rechtsformen in eine dynamische Beziehung zueinander und entwickelt etwa die staatlichen Sanktionsmöglichkeiten aus den natürlichen Rechtsmechanismen.[9]

2 DIE GENESIS DES STAATES ALS PROSPEKTIVE WILLENSNEGATION

Die Begriffe Unrecht und Recht leiten sich, wie bereits erwähnt, direkt aus der Willensmetaphysik und deren immanenten Folgen ab, die erst aus der Bejahung des Willens zum Leben entstehen. Der Wille als Ding an sich ist aber innerhalb der phänomenalen Welt durch das Individuationsprinzip gleichermaßen auf alle Vorstellungsinhalte verteilt und wendet sich in dieser Vereinzelung gegen sich selbst, wodurch der Widerstreit seines innersten Wesens reflektiert wird. Der metaphysische Mangel, den Schopenhauer im Wesen seines Willensbegriffs begründet, führt daher zu innerweltlichen Schwierigkeiten und Rechtsprinzipien können mithin als Negationen metaphysisch vorrangiger Grundbestimmungen verstanden werden. Für Schopenhauer zeichnet sich der Naturzustand der Welt durch ständiges Unrecht und konstante Übergriffigkeiten der Menschen untereinander aus. Dieser hobbesianische „bellum omnium contra omnes“, den Rousseau noch positiv als wahrhaft freien Zustand der Menschheit charakterisiert[10], ist für Schopenhauer der Normalzustand der Welt, dessen abgeleitetes Korrelat der Rechtsbegriff bildet. Die Begrifflichkeiten von Recht und Unrecht im engeren Sinn bestimmt Schopenhauer allerdings in Anlehnung an Rousseau auch positivistisch und bindet sie an einen vertragstheoretisch legitimierten Staat. Im vorhergehenden Naturzustand kann daher im eigentlichen Sinne weder von positiv konzipiertem Recht noch von Unrecht gesprochen werden, da die Individuen sich noch nicht auf einen Vertrag untereinander geeinigt haben und insofern noch nicht rechtsmündig sind:

„Diese rein moralische Bedeutung ist die einzige, welche Recht und Unrecht für den Menschen als Menschen, nicht als Staatsbürger haben, die folglich auch im Naturzustande, ohne alles positive Gesetz, bliebe und welche die Grundlage alles dessen ausmacht, was man deshalb Naturrecht genannt hat, besser aber moralisches Recht hieße.“ (W I, § 62, S. 440)

Recht und Unrecht sind demnach als moralisch verstandene Begriffe von universeller apriorischer Relevanz, da sie sowohl den sich bejahenden Willen selbst als auch dessen Manifestationen in der Zeit betreffen. Sofern sich dieser Wille über die Grenzen seines eigenen Leibes hinaus bejaht und einen anderen Willen verneint, begeht er Unrecht dessen Negation wiederum rechtens ist. Während die Gewalt als Eindringen in einen fremden Willen zugunsten meines eigenen auch jenseits vertraglicher Zusicherungen in moralischer Hinsicht unrecht ist, bestimmt Schopenhauer die darauffolgende Gegengewalt als Schutz meiner eigenen Person als rechtens. Der Rechtsbegriff und die darauffolgende Rechtfertigung des Staatsvertrags sind insofern als positiv zu verstehen, als sie die reaktive Verneinung einer vorausgehenden Verletzung meiner Person betreffen und daher Unrecht neutralisieren. Wenn ich beispielsweise einen Räuber in die Flucht schlage, begehe ich kein Unrecht, sondern antworte in adäquater Weise auf das Unrecht eines Aggressors. Schopenhauer gewinnt nun aus dieser moralisch-metaphysischen Grundlegung des Unrechts- bzw. Rechtsbegriffs die Rechtfertigung für den Staatsvertrag. Individualisiertes sowie institutionell verbrieftes Recht bestimmt Schopenhauer als „Zwangsrecht“ (W I, § 62, S. 441), insofern es als Negation einer vorausgehenden Willensnegation vollzogen wird. Somit wird der Begriff des „Zwangsrechts“ als Legitimation einer unter gewissen Umständen gewaltsamen Selbstverteidigung herangezogen, der die noch näher zu erläuternde, aus individueller Erkenntnis und Mitleid hervorgehende „freiwillige Gerechtigkeit“ (E, § 15, S. 242) entgegengesetzt ist.[11] Während für Kant die Begriffe des Rechts und der Moral streng voneinander unterschieden werden müssen, stehen sie bei Schopenhauer in unmittelbarer Verbindung, die jede Trennung als künstlich erscheinen lässt. Für Kant konstituiert sich der Begriff der Moral durch sittliche Einsicht in die Richtigkeit einer Handlung aus Pflicht[12], während der Rechtsbegriff mit Gesetzen und Strafen im Verbund mit einer kodifizierten Form der Gerechtigkeit korreliert. Schopenhauer bestimmt dagegen seinen Begriff der Moral willensmetaphysisch als Ausübung eines Unrechts gegenüber einem fremden Willen, den ich als Mittel für meine eigene Zwecksetzung instrumentalisiere, woran sich der Rechtsbegriff als Aufhebung dieses vorausgehenden Unrechts anschließt. Die institutionalisierte Form dieses Rechtsbegriffs manifestiert sich dann positiv als gesetztes Recht in Form eines Staatsvertrags, der die egoistischen Willensregungen jetzt mit Blick auf ihre Folgen gegenüber allen Vertragsteilnehmern einschränkt. Man kann den Unterschied zwischen Moral und Recht bei Schopenhauer zwar als gegensätzliche, aber aufeinander bezogene Begriffe bestimmen, wobei die Moral die voluntative Gesinnung und das Tun des Menschen adressiert, während sich das Recht mit den daraus erfolgenden Leiden und Konsequenzen dieser Handlungen befasst. Die Erkenntnis dieses Leidens als metaphysisch bedingter Dauerzustand der Welt, der in extrapolierter Gestalt das Leben als Ganzes mit einem permanenten Zustand existenzieller Prekarisierung identifiziert, kann zu einem ethischen Altruismus führen, den Schopenhauer in seiner Mitleidsethik als freiwillige Gerechtigkeit adressiert. Unter freiwilliger Gerechtigkeit sind nun keine staatspolitischen, sondern im Wesentlichen individualethisch altruistische Handlungen aus Mitleid zu verstehen, die im Grunde auf der Erkenntnis der praktischen Präsenz einer ursprünglich metaphysischen Einheit alles Seienden und somit auch des Menschseins beruht. Hier ist der wahre Endpunkt der Ethik erreicht, der allerdings für Schopenhauer weder Sinn noch Zweck staatlichen Handelns sein kann und insofern eine komplementäre oder weitergehende Betrachtung darstellt.[13]

Der Staat als Rechtsform tritt somit ausdrücklich als Negation individueller Grenzüberschreitungen auf, die als Ausdruck überbordender Willensbejahung begriffen werden und dementsprechend den fremden Willen verneinen. Grundlage dieser Staatstheorie, die im Gegensatz zur freiwilligen Gerechtigkeit als institutionalisiertes Zwangsrecht zu verstehen ist, bildet der Egoismus eines jeden Einzelnen, der als solcher erst problematisch wird, sobald er in einen fremden Willen zugunsten seines eigenen eingreift. Wird diese Grundverfassung eingesehen und mittels der Vernunft in abstracto durchschaut, tritt ähnlich wie bei Hobbes der Staat als Vertrag reflektierter Individuen untereinander auf, die auf diese Weise den individuellen Egoismus in ein gesetzmäßig organisiertes Gemeinwesen überführen, das die partikularen Egoismen der Teilnehmer vertraglich regelt. Der Staat kann dahingehend als Restriktion egoistischen Handelns verstanden werden, dass er sich aus Schopenhauers Sicht nicht zur moralischen Anstalt erhebt, die ihre Bürger in sittlicher Hinsicht belehren will, sondern ein Zweckbündnis selbstsüchtiger Individuen darstellt. Sein Ziel besteht darin, das nackte Überleben seiner egoistischen Einzelkämpfer untereinander zu sichern, wodurch auch schwächeren Individuen ermöglicht wird, ihre eigenen Interessen zu verwirklichen. In diesem Sinne liegt die Aufgabe des Staates gerade nicht in einer Verminderung, sondern in einer Sublimierung egoistischer Einzelinteressen, die es jedem Einzelnen ermöglichen, ungestört seine eigenen Zwecke zu verfolgen. Davon zu unterscheiden ist Schopenhauers Individualethik, die sich maßgeblich aus dem Begriff des Mitleids und der Einsicht in die negative Grundstruktur der Welt speist und dem institutionalisierten Begriff des Zwangsrechts, die freiwillige, auf Erkenntnis basierende Gerechtigkeit entgegenhält.[14]

Nun besteht das menschliche Handeln, analog zu Schopenhauers Weltbegriff, aus zwei grundlegenden Momenten:

1. dem intelligiblen Charakter, der die Grundtendenzen des individuellen Wollens festlegt und

2. den äußeren Motiven, die die Aktivierung dieses Wollens ermöglichen.

 

Während das erste Moment für das Individuum in seiner Willensverneinung[15] bedeutsam ist, bezieht sich der Staat in seiner willensbejahenden Funktion auf den zweiten Faktor und berücksichtigt dementsprechend nur die äußerlichen Motive unseres Handelns. Schopenhauer bestimmt diesen Ausführungen folgend die staatlich organisierte Strafe als Zweck für die Zukunft, die den Einzelnen an die Erfüllung seiner vertraglich zugesicherten Pflichten erinnert und der Verletzung des Staatsvertrags vorbeugen soll. Das positive Gesetz in Form des Strafgesetzes erfüllt insofern nur den Zweck der Abschreckung als negative Generalprävention für alle Staatsbürger, wodurch der potenzielle Täter davon abgehalten werden soll, seinem Egoismus freien Lauf zu lassen. Dadurch wird das potenzielle Opfer geschützt und kann wiederum seinen egoistischen Interessen ungestört nachgehen. Diese präventive Straftheorie hält den jeweils egoistischen Motiven der Bürger ein in Form der Strafe ausgedrücktes Gegenmotiv vor, das gerade durch die Einschränkung partikularer Willensregungen, den allgemeinen Egoismus innerhalb gemeinsamer Grenzen besser florieren lässt und die Individuen voreinander schützt. Der Staat demotiviert dadurch den „Genuß des gelegentlichen Unrechtthuns“ (W I, § 62, S. 448), indem er den Akteuren einen bevorstehenden Schmerz durch Strafe in Aussicht stellt. Daher erschöpft sich der Zweck des Staates bei Schopenhauer in einem rechtlich organisierten und sozial verträglichen Ausgleich der Genusssucht seiner Bürger. Die rückwirkende Vergeltung kann nach Schopenhauer kein Zweck der Strafe sein, da sie vergangenes Leid durch zusätzliches Leid auszugleichen versucht und in dieser Hinsicht Parallelen zur Rache aufweist. Er wendet sich in diesem Zusammenhang explizit gegen die kantische Retributionstheorie der Strafe als „bloßer der Vergeltung, um der Vergeltung willen“ (W I, § 62, S. 451)[16] und bezeichnet sie als grundlos und falsch, da kein Verbrechen auf diese Art neutralisiert oder „gesühnt“ werden könne. Eine prospektive Vergeltungstheorie der Strafe wird von Schopenhauer nicht explizit ausgeführt, man könnte allerdings interpretieren, dass Vergeltung als Ausdruck staatlicher Souveränität hinsichtlich der zeitlichen Gerechtigkeit innerhalb des Staates als positiv aufgefasst werden kann.[17]

Innerhalb der gerade skizzierten Theorie tritt der Staat als rationales Erzeugnis auf, das aber als Instrument im Dienst des Willens zum Leben steht. Die Zwecksetzung des Staates liegt in der Vermeidung von Leid und nicht in der Befreiung vom Lebenswillen, weshalb auch ein perfekt organisierter Staat keine Erlösung von diesseitigen Beschwerden darstellt. In der Staatlichkeit sieht Schopenhauer vielmehr die pragmatische Klugheit der Vernunft am Werk, die prinzipiell das willens-und lebensbejahende Zusammenleben egoistischer Individuen erträglich gestalten kann. Der Wille selbst bleibt vom Staat unberührt:

„Die Vernunft erkannte hieraus, dass sowohl um das über Alle verbreitete Leiden zu mindern, als um es möglichst gleichförmig zu verteilen, das beste und einzige Mittel sei, Allen den Schmerz des Unrechtleidens zu ersparen, dadurch, daß auch Alle dem durch das Unrechttun erlangenden Genuß entsagen.- Dieses also von dem, durch den Gebrauch der Vernunft, methodisch verfahrenden und seinen einseitigen Standpunkt verlassenden Egoismus leicht ersonnene und allmählich vervollkommnende Mittel ist der Staatsvertrag oder das Gesetz.“ (W I, § 62, S. 445)

Dieses Zitat verdeutlicht die instrumentelle Rolle der Vernunft[18], deren praktischer Wert sich in der Koordination egoistischer Einzelinteressen erschöpft. Anders als für Kant zeigt sich die praktische Vernunft für Schopenhauer keineswegs als moralische Instanz, obwohl sie in gewisser Weise den Willen in seinen extremen Ausdrucksformen beschränkt und das Recht des Stärkeren verhindert. Aber dadurch verhilft sie der menschlichen Existenzweise lediglich zu einer erträglicheren Daseinsform, die den Egoismus und die Willensbejahung an bestimmte Bedingungen knüpft. Die einzige Quelle moralischen Handelns liegt nach Schopenhauer in der Erkenntnis der prinzipiell negativen Willensstruktur als „Grund allen Übels“ (W I, § 63, S. 458), die es im Ganzen zu verneinen gilt.

3 EWIGE GERECHTIGKEIT UND INDIVIDUELLE WILLENSVERNEINUNG

Der Staat basiert in Schopenhauers Theorie auf der reflektierten Einsicht egoistischer Individuen, die ihre unterschiedlichen Interessen durch wechselseitige Einschränkungen besser verfolgen können. Schopenhauers „politische Ethik“ unterscheidet sich dahingehend fundamental von Platons oder Hegels Staatskonzeptionen, dass die Individuen als „Herren der Verträge“ letztlich Träger des institutionellen Gesamtgefüges sind. Während Platon und daran anknüpfend Hegel im Wesentlichen den Staat als Träger ethischer Wertprädikate konzipierten, der den besonderen Individuen als „allgemeine sittliche Substanz“ vorausgeht, bestimmt Schopenhauer die politische Gemeinschaft als vernünftiges Mittel zu einem gewissen Interessenausgleich in einer metaphysisch fundierten grausamen Weltordnung. Der Staat stellt also gerade nicht wie bei Hegel einen apriorischen Selbstzweck dar, der den Individuen als höchste Pflicht auferlegt, Bürger eines Staates zu sein und dessen Regeln zu akzeptieren. Genauso weicht Schopenhauer von Platon ab, der zwar seine Kardinaltugenden Weisheit, Tapferkeit und Besonnenheit und deren entscheidendes koordinierendes Substrat – die Gerechtigkeit – auch an den Einzelnen richtet, der aber diese Tugenden nur als Bürger in einer Polis realisieren kann. Sowohl Platon als auch Hegel konzipieren demzufolge eine Ethik, die ihren primären Anwendungsbereich in einer politischen Gemeinschaft, sei dies ein moderner Staat oder eine Polis, verortet.[19]

Schopenhauer, der sich in diesem Kontext fälschlicherweise auf Platon beruft, konzipiert zwar eine politische Theorie, aber keine politische Ethik, die den Staat als moralische Substanz bestimmt. Schopenhauers politische Theorie kann daher nur als solche gewürdigt werden, wenn man sie vor dem Hintergrund seiner Willensmetaphysik betrachtet. Der an sich blinde und ziellose Wille objektiviert sich auf der höchsten Stufe in der egoistischen Handlungsweise des Menschen, dessen optimale Realisierung die staatlichen Institutionen verwirklichen. Der Staat selbst ist insofern weder Bedingung noch Zweck moralischer Willensbestimmung, sondern schafft ein gewisses Maß an Gerechtigkeit durch einen Interessenausgleich egoistisch gesinnter Individuen. Die Gerechtigkeit, die im Staat durch seine Strafgesetzgebung erzeugt wird, ist eine sich in der Zeit realisierende, die zwischen dem Unrecht des Täters und den Leiden des Opfers vermittelt. Diese „zeitliche Gerechtigkeit“ (W I, § 63, S. 454), die innerhalb eines Staates zur Anwendung kommt, ist allerdings nur eine vordergründige, da sich ihre Verwirklichung in der raum-zeitlichen Erscheinungswelt abspielt und nicht die wesentlichen Aspekte des Willens als Ding an sich tangiert. Innerhalb der phänomenalen, dem Satz vom Grunde folgenden Erkenntnisweise werden die Menschen als vereinzelte Individuen nicht in ihrer grundsätzlich metaphysischen Bedeutung erfasst. Diese an die Welt als Vorstellung gebundene Erkenntnisweise sieht in den einzelnen Individuen radikal voneinander getrennte Subjekte und nicht deren ursprüngliche Einheit als objektivierte Manifestationen des einen ungeteilten Willens als Ding an sich. Somit behandelt der Staat und dessen zeitliche Gerechtigkeit die rechtswidrig handelnden Täter und deren Opfer als unterschiedliche Individuen, während beide aus der ewigen Perspektive des metaphysischen Willens als Objektivationen eines und desselben Grundprinzips betrachtet werden, das beide in wesentlicher Hinsicht miteinander identifiziert.[20]

Die phänomenale Erkenntnis der Welt am Leitfaden des Satzes vom Grunde, die der zeitlichen Gerechtigkeit staatlichen Strafens zugrunde liegt, verkennt daher die wesentliche Identität von Täter und Opfer, die von Schopenhauer in einer höheren metaphysisch konzipierten Einheit begründet wird. Denn der Wille als Ding an sich objektiviert sich gleichermaßen und ungeteilt in all seinen individuellen Erscheinungsformen, weshalb Schopenhauer neben der innerweltlichen, zeitlichen Gerechtigkeit, eine willensmetaphysisch konzipierte „ewige Gerechtigkeit“ (W I, § 63, S. 454) antizipiert. Diese ewige Gerechtigkeit kann freilich nur durch die metaphysisch inspirierte Sichtweise des Willens als Ding an sich und nicht dessen staatliche Erscheinung zustande gebracht werden. Da der Wille als Ding an sich nicht den notwendigen Mechanismen der Erscheinungswelt unterliegt, sondern lediglich seine Sichtbarkeit innerhalb der Welt als Vorstellung dokumentiert, ist er in jedem Individuum Ein- und dasselbe. Täter und Opfer, Quäler und Gequälter sind daher ihrem wollenden Wesen nach identisch. Nur eine im principium individuationis befangene Erkenntnisweise behält die radikale Trennung beider Individuen bei, ohne die essenzielle Quelle ihres Schmerzes zu erkennen. Wenn allerdings erkannt wird, dass es ein und derselbe Wille ist, der alle Lüste, Sehnsüchte und Leiden begleitet, dann wird auch deutlich, dass der Unrecht ausübende und Unrecht erleidende Wille an sich derselbe ist. Aus dieser Perspektive ist der gerechte Ausgleich zwischen Quäler und Gequältem immer schon gegeben. Der Täter verletzt sich im Opfer aus dieser zeitlosen Perspektive vielmehr selbst und die ewige Gerechtigkeit zeigt sich als perpetuiertes, metaphysisches Nullsummenspiel.[21]

Schopenhauers Konzeption der „ewigen Gerechtigkeit“ mag vor dem Hintergrund realer Gräueltaten von historischem Ausmaß zynisch klingen und von geringem Trost für die konkreten Opfer sein. Es geht hierbei nicht darum, die Boshaftigkeit bestimmter Individuen in einem transzendentalphilosophischen Rechenexempel zu relativieren, sondern einen Ausweg aus einer letztlich unhintergehbaren Leidensspirale aufzuzeigen, die Schopenhauer von einer lebensbejahenden, politischen Ethik hin zu einer Individualethik der Willensverneinung führt. Wie bereits angedeutet ist der Staat weder willens noch in der Lage dauerhafte Gerechtigkeit in einem kantisch anmutenden Ideal des höchsten Guts zu bewerkstelligen. Daher priorisiert Schopenhauer letztlich das Individuum als prinzipielles Subjekt ethischer Wertprädikate. Die Erkenntnis dieser metaphysischen Grundverfassung der Welt als Wille kann nur von jedem Einzelnen geleistet werden und setzt eine Modifikation der Erkenntnisweise voraus, die jenseits des Satzes vom zureichenden Grund das Wesentliche in der Erscheinung, also den Willen als Ding an sich, erblickt. Diese Erkenntnisweise, die Schopenhauer in praktischer Hinsicht stellenweise mit einem „Heiligen“ assoziiert, der sich alles Leiden in der Welt zu eigen macht, verbindet Schopenhauer mit der Erkenntnis der Ideen, die platonisch gesprochen die grundlegende allgemeine Einheit als Urbild der Gattung exemplifiziert:

„Aber die ewige Gerechtigkeit wird nur der begreifen und fassen, der über jene am Leitfaden des Satzes vom Grunde fortschreitende und an die einzelnen Dinge gebundene Erkenntnis sich erhebt, die Ideen erkennt, das principium individuationis durchschaut, und inne wird, daß dem Ding an sich die Formen der Erscheinung nicht zukommen.“ (W I, § 63, S. 458)

Sowohl der Künstler als auch der „Heilige“ ist an die Erkenntnis der Ideen gebunden, während der Philosoph diese Ideen nur in einer mimetisch-begrifflichen Nachahmung zum Ausdruck bringen kann. Diese Form der Ideenschau, die jeder Einzelne nur für sich vollziehen kann, verdeutlicht in praktischer Hinsicht alle negativen Implikationen eines metaphysisch beschädigten Lebens, das in letzter Instanz nur durch die komplette Negation des Lebenswillens am eigenen Leib überwunden werden kann. Die praktische Negation des Willens zum Leben ist nun diejenige ethische Einstellung, die Schopenhauer fordert. Angefangen mit der intuitiven Erkenntnis der ewigen Gerechtigkeit, die Schopenhauer in dem Satz „der Quäler und der Gequälte sind Eines“ (W I, § 63, S. 459) zusammenfasst, vollzieht sich eine empathische Einstellung des Subjekts, das jetzt den Willen als Quell des Leidens identifiziert und am eigenen Leib mortifiziert.[22] Die Einsicht in die Natur des Willens und die zynisch anmutende ewige Gerechtigkeit führt dazu, dass die Welt dem „Heiligen“ keine Motive mehr anbietet, die seinen Lebenswillen aktivieren, sondern ein Quietiv des Willens auslöst. Schopenhauers Erlösungsgedanke hebt mit diesem Theorem der ewigen Gerechtigkeit an, das die individuelle Selbstverneinung des Willens in die letzte Phase überführt. Die modifizierte Erkenntnisweise, die sich über die Ideenschau vollziehen kann[23], und in der Einsicht der ewigen Gerechtigkeit endet, initiiert einen gestuften Prozess der Willensverneinung, der in einem gänzlichen Quietiv des Willens endet, das Schopenhauer als „Nichts“ bestimmt.[24]

FAZIT

Es hat sich also gezeigt, dass Schopenhauers politische Theorie nur vor dem Hintergrund seiner Willensmetaphysik zu verstehen ist, die das Dasein letztlich als zwecklosen Leidenszusammenhang erscheinen lässt. Der Staat wird in diesem Zusammenhang als Resultat einer Willensbejahung rational agierender Egoisten bestimmt, die auf diese Weise ihre eigenen Interessen besser verfolgen können. Außerdem zeigt Schopenhauer in diesem Zusammenhang seine maximal von Kant abweichende Konzeption praktischer Vernunft, die weder als Quell sittlicher Einsicht noch als Erkenntnisgrund der Freiheit fungiert. Praktisches Denken besteht für Schopenhauer vielmehr darin, von unmittelbaren Leidenschaften zu abstrahieren und die unmittelbaren Konsequenzen meines Handelns mit meinen langfristigen Interessen in Einklang zu bringen. Der Staat ist somit als vernünftiges Resultat egoistischer Überlegungen zu charakterisieren, dessen eigentlicher Zweck in der optimalen Bedürfnisbefriedigung seiner Bürger und deren gegenseitigem Schutz besteht.

Daher ist der Staat bei Schopenhauer keine moralische Institution und somit kein Träger ethischer Wertprädikate. Die staatliche Gerechtigkeit fungiert als kalkulierter Abschreckungsmechanismus, der seine Bürger durch Androhung von Strafe nicht erziehen, sondern in ihren Trieben demotivieren soll. Aus diesem Grund konzipiert Schopenhauer eine höhere Form der Gerechtigkeit, die wiederum nur aus den Grundzügen seiner Willensmetaphysik begreifbar ist und sich speziell auf das Individuum bezieht. Unter Voraussetzung der These, die Welt sei in ihrem Ursprung nichts als Wille, zeigen sich alle individuellen wie kollektiven Boshaftigkeiten und die damit verbundenen Schmerzen als Ausdrücke eines und desselben Willens, der sich in der erscheinenden Welt gegen sich selbst richtet. Somit sind Täter und Opfer nicht verschiedene Subjekte, sondern Ausdrücke ein und desselben Willens, der ewig alles erleidet, was er auslöst. Aus der Einsicht in diese unhintergehbare Verfasstheit der Welt, die in ihrem Kern aus Leiden besteht, kann eine individuell vollzogene „Erlösung“ durch eine komplette Negation des Willens letztlich nur am eigenen Leib realisiert werden.

Schopenhauers Theorie zeigt somit paradigmatisch wie genuin philosophische und universelle Grundbestimmungen mit individuellen Sorgen und Ängsten in Verbindung treten können. Die a priori fundierte Struktur unseres Willens avanciert in dieser Theorie zum Grundlegungsprinzip von Staatlichkeit, die sich direkt auf individuelle Bedürfnisse bezieht und die politische Relevanz des Gesetzes sowie der Strafe grundlegend fundiert. Außerdem bezieht Schopenhauers Staatstheorie unbeabsichtigt ein aufklärerisches Moment[25] in ihre Betrachtung ein: Der Staat wird hier im Unterschied zu Hegel nicht als apriorischer Selbstzweck konzipiert, den die Bürger aus sittlichen Gründen unkritisch zu akzeptieren haben. Staatlichkeit zeigt sich vielmehr als moralisch neutrales Instrument egoistischer Einzelinteressen, das auf der Zustimmung ihrer Subjekte als „Herren der Verträge“ basiert und reformiert werden kann. Ferner bindet Schopenhauer seine politische Theorie in die Grundstrukturen seiner Ethik ein, die allerdings primär als Individualethik charakterisiert werden muss und sich somit an den Einzelnen als prioritären Träger ethischer Tugenden richtet. Solche prinzipiellen Begründungsversuche ethischer Phänomene, wie sie Schopenhauer aufzeigte, könnten in heutigen Debatten, die des Öfteren vor dem Hintergrund der schlichten Vielfalt unterschiedlicher Ethikkonzeptionen in einen gewissen moralischen Relativismus abzudriften scheinen, für die Beantwortung grundsätzlicher Fragen in ihrer Modernität kaum zu unterschätzen sein. Daher liegt die Stärke der schopenhauerschen Philosophie als Ganzer insbesondere in ihrer transzendentalphilosophisch basierten Universalität, die als antirelativistisches Gegengift in politisch schwierigen Zeiten von den Veranstaltern des IX. internationalen Colóquio zu Recht zu einem entscheidenden, thematischen Bezugspunkt erhoben wurde.

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Authorship contributions

1 – Raphael Gebrecht:

Universität Duisburg-Essen

https://orcid.org/0000-0002-8476-7465 • raphaelgebrecht@gmail.com

Contribuition: Writing – original draft:

How to quote this article

GEBRECHT, Raphael. Der Staat und die Begriffe des Rechts und Unrechts in Schopenhauers „politischer Metaphysik“. Voluntas Revista Internacional de Filosofia, Santa Maria, v. 12, e08, 2021. DOI 10.5902/2179378666969. Available at: https://doi.org/10.5902/2179378666969. Accessed on: day month abbreviated. year.



[1] Insbesondere angelsächsische Ansätze scheinen sich der prinzipiellen Begründung ethischer Probleme oder auch der Einteilung ethischer Ansätze nach grundlegenden Willensprinzipien zu verschließen: Exemplarisch sei hierzu die folgende kurze Übersicht angeführt. Vgl. Mäckie: Ethik, S. 27ff.; Singer: Practical Ethics, S. 74f. 90f. Eine stark vereinfachte Einteilung ethischer Konzeptionen, die hauptsächlich zwischen utilitaristischen und deontologischen Prinzipien unterscheidet lieferte Frankena: Analytische Ethik, S. 30-76 und Broad, der eine unterschiedliche Einteilung vornimmt. Er unterscheidet fünf Positionen (Spinoza, Butler, Hume, Kant und Sigwick) in historisch vereinfachter Weise und gliedert diese in naturalistische und rationalistische Theorien. Siehe hierzu: Broad: Five Types of Ethical Theory, S: 31ff., 54f. Es sei noch darauf hingewiesen, dass Rawls mit Bezug auf Kant eine prinzipielle Begründung der politischen Ethik vorgelegt hat: Vgl. Rawls: A Theory of Justice, S. 32, 107ff. Auf die spezifisch moderne Diversität ethischer Ansätze hat im deutschsprachigen Raum Tugendhat hingewiesen: Siehe Tugendhat: Vorlesungen über Ethik, S. 90. Systematische Übersichten mit dem Anliegen einer prinzipiellen Begründung verschiedener Ethik-Typen liegen u.a. vor von: Schulz: Grundprobleme der Ethik, S. 37ff., 51ff., 137ff., und Düsing: Fundamente der Ethik, S. 5ff. 9ff. 19ff. 27ff.  

[2] Die Welt als Wille und Vorstellung wird zitiert nach der Lütkehaus-Ausgabe (Lü): Arthur Schopenhauer: Werke in fünf Bänden. Hrsg. von Ludger Lütkehaus, Zürich 1988. Die Verwendung der Lütkehaus-Ausgabe basiert auf einer editorischen Priorisierung, die zum Schluss dieser Abhandlung in einer Fußnote dargelegt wird.

[3] Kant: KrV, A 599/B627.(Kants Kritik der reinen Vernunft wird wie üblich nach der Originalpaginierung der ersten beiden Auflagen zitiert. Die Zitation der übrigen Werke erfolgt nach der Akadmieausgabe: Immanuel Kant: Gesammelte Schriften. Berlin 1910ff.). Dieser kantische Einwand gegen die ontologische Erkennbarkeit Gottes, ist für sich noch nicht erkenntniskritisch, sondern verweist auf Kants eigene universalistische Ontologie, nach der Dasein oder Existenz nicht mehr als sachhaltige Realitäten oder Vollkommenheiten angesehen können, sondern lediglich als Setzungen eines Subjekts, die prinzipiell allem Seienden zugesprochen werden könnten und dem als seiend gesetzten Begriff inhaltlich nichts neues hinzufügen. Abgesehen davon, dass dieser Einwand nicht speziell erkenntniskritisch ist, tritt er lediglich als Gegenthese ohne besondere Durchschlagskraft auf, da Anselm oder Descartes derartige Argumentationen allenfalls für endliche, nicht für unendliche Entitäten gelten lassen würden. Daher knüpft Kant ein weiteres, erkenntniskritisches Argument an, wonach Seiendes als möglich, wirklich und notwendig in einem bestimmten Sinn in unserer sinnlichen Realität (insbesondere der zeitlichen) angetroffen werden muss. Siehe hierzu: Röd: Der Gott der reinen Vernunft, S. 71ff.; und Ficara: Die Ontologie in der Kritik der reinen Vernunft, S. 174ff.; Zu Kants verschiedenen Einwänden und deren ontologischen Hintergründen siehe: Düsing: Ontologie, Ontotheologie und Moralphilosophie in Kants kritischer Philosophie, S. 324ff., 329f. 

[4] Schelling bezeichnet in der von Schopenhauer anfänglich sehr geschätzten Freiheitsschrift „Wollen“ als „Urseyn“ und folgt damit seinen frühen Ausführungen in der Ich-Schrift. Vgl.: Schelling: SW, VII, S. 368; siehe außerdem: SW I, S. 157, vgl. hierzu den erhellenden Beitrag von Schulz, die auch Spinoza als in besonderem Maße bedeutsam für Schopenhauer und Schelling begreift: Schulz: Wille und Intellekt bei Schopenhauer und Spinoza, S. 87ff. 

[5] Vgl. W II, Kap. 46, S. 669; vgl.: P II, S. 309 f. Siehe hierzu Koßlers scharfsinnige Analyse, die unter komparativen Gesichtspunkten Hegel einbezieht. Vgl. Koßler: Substanzielles Wissen und subjektives Handeln, S. 68 f., und den ebenfalls sehr erhellenden Beitrag von Cacciola: Schopenhauer e a questão do dogmatismo, S. 89ff., 157ff., die unter Berücksichtigung der kantischen Tradition auf einige Schwierigkeiten des Willensbegriffs hinweist.  

[6] Aus diesem Grund ist Schopenhauers Willensmetaphysik auch keineswegs als theologische Offenbarungslehre zu interpretieren, wie Sauter-Ackermann glaubt. Schopenhauer bemüht sich vielmehr um eine deutliche Grenzziehung zwischen philosophischen und theologischen Inhalten und gibt u.a. in Kap. 17 des zweiten Bandes der Welt als Wille und Vorstellung deutliche Kriterien und systematische Ortsbestimmungen für beiden Disziplinen an. Siehe hierzu: W II, Kap. 17, S. 192ff., 197-206; und Sauter-Ackermann: Erlösung durch Erkenntnis? S. 27ff., 220f., 246ff. 

[7] Zum Problem der Teleologie und Schopenhauers pessimistischer Weltsicht siehe: Dörpinghaus: Mundus Pessimus, S. 37ff., der in diesem Beitrag auf einige Parallelen im Kontext der Leibnizschen „Essais de theodicée“ und Voltaires „Candide“ hinweist sowie den kritisch kommentierenden Artikel von Jannaway: Schopenhauer's Pessimism, S. 318-343.

[8] Vgl. zu Hobbes' eigener Konzeption: Lev. 10: 66, 11:75. Siehe außerdem die kommentierenden Beiträge, die sich in etatistisch-kontraktualistischen Interpretationslinien vollziehen von: Hampton: Hobbes and the Social Contract Tradition, S. 42ff.; und Chwaszcza: Anthropologie und Moralphilosophie im ersten Teil des Leviathan, S. 69f.

[9] Vgl. W I, S. 423, 430 f.; W II, S. 411. Es sei außerdem nochmals darauf hingewiesen, dass Schopenhauer den Begriff der Moral nicht normativ, sondern deskriptiv als Beschreibung und Deutung menschlichen Handelns verwendet. Siehe hierzu: Hallich: Mitleidsethik oder praktische Vernunft, S. 59. Hallich äußert aber Bedenken hinsichtlich Schopenhauers deskriptivem Ansatz, da er maßgeblich auf den Leidensbegriff und eine damit einhergehende Vermeidungsstrategie rekurriert. Vgl. Ders.: Mitleid und Moral, S. 12-23. Eine ästhetische Interpretation, die normative Züge in sich trägt, wurde vorgelegt von Seelig: Leben und Erlösung. Über das Leiden und den Erlösungsgedanken bei Schopenhauer und Wagner, S. 101-110. Eine ebenfalls deskriptive, aber letztlich nihilistische Auflösung des schopenhauerschen Ethik-Diskurses lieferte Lütkehaus, der mit Bezug auf Heidegger nicht immer Schopenhauers eigener Intention gerecht wird; vgl. Lütkehaus: Nichts, S. 580, 600, 624ff.

 

[10] Vgl. Rousseau: DU, 57. Eine interessante Interpretation, die bei allen Unterschieden auch auf einige erhellende Parallelen der schopenhauerschen Staatstheorie mit kontraktualistischen Ansätzen bei Rousseau, Locke, Kant und Rawls hinweist, liegt vor von Caldeira Ramos: A teoria da justiça, insbesondere S. 182ff.

[11] Diese Form der Selbstverteidigung muss nicht gewaltsam vollzogen werden. Schopenhauer akzeptiert auch die gezielte Anwendung von List und Täuschung zur Abwehr einer äußerlich eintretenden Willensnegation. Vgl. W I, § 62, 441f., E, §17 260ff. Zu den ethischen Implikationen des Zwangsrechts in Verbindung mit dessen individualethischem Korrelat der freiwilligen Gerechtigkeit siehe in weiter ausgreifenden systematischen Kontexten Koßler: Empirische Ethik und christliche Moral, S. 68-80, 100ff. 120ff.

[12] Vgl. zu Kants Unterscheidung von Recht und Moral sowie dem damit einhergehenden Begriff der Sittlichkeit: Kant: GMS: AA04: 390f., 401; und MS: AA06: 205f., 233f. Zu den Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen Kant und Schopenhauers ethischen Konzeptionen siehe: Fleischer: Schopenhauer als Kritiker der kantischen Ethik, S. 27ff., 73f., die insbesondere Schopenhauers Kritik an Kants Moralbegründung als durchaus berechtigt würdigt, ihn aber an einigen Stellen gerade durch seine Akzeptanz der kantischen Erkenntniskritik vor ähnliche Probleme gestellt sieht. 

[13] Zum Verhältnis von Staat und Moralität sowie abweichenden Interpretationen, die Schopenhauers Staatstheorie in einer expliziten Kontinuität mit seiner Mitleidsethik konzipieren siehe: Woods: Schopenhauer on the State and Morality, S. 299-324; und Shapshay: Reconstructing Schopenhauer`s Ethics, S. 2ff.; 38ff. 120ff. Zu den handlungstheoretischen Implikationen, die sich auch mit Schopenhauers Theorie des Zwangsrechts und dessen Implikationen für individuelle Handlungsoptionen befassen siehe: Aul: Strukturen in Schopenhauers Handlungstheorie, S. 245ff., siehe außerdem die erhellenden und kritischen Beiträge, die sich mit den moralischen Konsequenzen der Willensfreiheit in Bezug auf Schopenhauers deterministische Sichtweise befassen, die auch staatsphilosophisch Probleme mit sich bringen: Mockrauer: Zur Freiheit des Willens, S. 262-269, und Kuhlenkampff: Hätten wir anders handeln können? S. 15f. 22ff.

[14] Vgl. W I, § 61, S. 432 f. Zu Schopenhauers Staatstheorie in Verbindung mit einer Legitimation von Strafe gegenüber Individuen siehe: Hoerster: Zur Verteidigung von Schopenhauers Straftheorie der Generalprävention, S. 101-113. Eine auch von Koßler hervorgehobene ambivalente Einstellung Schopenhauers zum Widerstandsrecht, die auch im Sinne einer autoritär-etatistischen Einstellung gedeutet werden könnte betont Neidert: Die Rechtsphilosophie Schopenhauers und ihr Schweigen zum Widerstandsrecht. Siehe außerdem die liberale Interpretation von Wolf: Schopenhauers Liberalismus, S. 63-86, die auf eine reziproke Eröffnung von Freiheitsräumen durch gemeinsam akzeptierte Grenzen abzielt. 

[15] Auf den transzendentalphilosophischen Hintergrund der Willensverneinung samt seiner Implikationen für unsere empirischen Willensregungen weist in bisher kaum übertroffener Weise Malter hin: Siehe hierzu: Malter: Transzendentalphilosophie und Metaphysik des Willens, S. 424f., 427. Daran anknüpfend zeigt Koßler die kantisch anmutenden Voraussetzungen des intelligiblen Charakters bei Schopenhauer und seine unverzichtbare Dimension zur Erkenntnis unseres empirischen Charakters sowie die enormen Auswirkungen für Schopenhauers gesamte Betrachtung der Welt in transzendentalphilosophischer Hinsicht. Vgl. Koßler: Die Philosophie Schopenhauers als Erfahrung des Charakters, S. 91-110.

[16] Ebd.: W I, S. 433. Ein erhellender Beitrag, der Schopenhauer im Lichte einer Präventionstheorie von Kant als Retributionstheoretiker abgrenzt und sich darüber hinaus auf aktuelle Probleme staatlichen Strafens bezieht liegt vor von Hallich: Zur Rechtfertigung staatlichen Strafens, S. 151-175. Siehe außerdem den bezüglich Schopenhauer ebenfalls immanenten präventionstheoretischen Interpretationsansatz von Diebitz: Strafe muss sein – diesseits des Staates! S. 211-220. Inwiefern Kants Theorie der Strafe im Lichte seiner ethischen Grundlegungsbemühungen lediglich als Retributionstheorie aufgefasst werden kann ist umstritten. Siehe hierzu: Recki: Mitleid ohne Freiheit? S. 23ff., die eine leidenschaftliche Verteidigung der kantischen Ethik mit Blick auf den Freiheitsgedanken vorträgt und Schopenhauers eigene Position eher in polemischer Manier kritisiert. 

[17] Zu den exegetischen Schwierigkeiten der schopenhauerschen Straftheorie siehe die sorgfältigen Analysen von Cattaneo: Das Problem des Strafrechts im Denken Schopenhauers, S. 95-112, bes. 107ff. 

[18] Schopenhauers Vernunftbegriff wurde in diesem Zusammenhang nur in seiner pragmatischen Dimension erörtert und divergiert in Schopenhauers Gesamtwerk erheblich. Insbesondere mit Blick auf Schopenhauers Begriff der Besonnenheit (σωφροσύνη), den Schopenhauer mit Blick auf seine Ideenlehre explizit an die platonische Tradition anschließt, scheint die Vernunft nicht nur instrumentell zu verfahren und durchaus positiv konnotiert zu sein, wodurch die Stellung der Vernunft in Schopenhauers Gesamtwerk als ambivalent einzuschätzen ist. Siehe hierzu: Koßler: Zur Rolle der Besonnenheit in der Ästhetik Arthur Schopenhauers, bes. S. 123f. Eine negativere an Horkheimer erinnernde Interpretation des schopenhauerschen Vernunftbegriffs liegt vor bei Cacciola: Prólogo: Schopenhauer é um verdadeiro discípulo de Kant?

[19] Vgl. Platon: Politeia: 427e-445e. Politikos: 306-311c. Siehe auch Hegels Aussagen in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, S. 225ff.

[20] Zu den Implikationen von zeitlicher und ewiger Gerechtigkeit und einigen Schwierigkeiten mit Blick auf Schopenhauers Staatskonzeption siehe: Hamlyn: Eternal Justice, S. 281-288. Eine wohl Schopenhauer kaum gerecht werdende Engführung staatlicher und theologischer Gerechtigkeitsvorstellungen liefert Janssen: Gott – Freiheit – Leid, S. 129-140. Ähnlich fehlgeleitete, religiös-mystifizierende Interpretationen von Schopenhauers Willensprinzip, das es in letzter Instanz zu verneinen gilt, finden sich bei Sauter-Ackermann: Erlösung durch Erkenntnis? S. 246ff.; und Wilhelm: Zwischen Allwissenheitslehre und Verzweiflung, 160ff. Dieser Abhandlung näherstehende, im Rahmen einer transzendentalphilosophisch ausgerichteten Interpretation verfahrenden Beiträge liegen vor von Koßler (2002), 91f., 100ff.; und in den Grundzügen einer Mitleidsethik von Hallich (1998), S. 38f.

[21] Lütkehaus zog aus dieser prinzipiell negativen Perspektive des Willens als Ding an sich eine in seinem Sinne konsequent nihilistische Deutung, die allerdings mit Blick Schopenhauers Begriff des relativen Nichts, der expressis verbis auf Platons Verwendungsweise im Sophistes anspielt und Differenz oder Verschiedenheit vom Diesseits bedeutet, entschieden zu weit gehen dürfte. Vgl. Lütkehaus: Nichts. S. 221ff., 601f. Auf diese begriffliche und erkenntniskritische Differenzierung hat Malter hingewiesen. Vgl. Malter (1991), S. 420ff., 441. 

[22] Auf die enorme Bedeutung dieser empathischen Einstellung für Schopenhauers gesamte Ethik, die sich aus einer intentionalen Empathiefähigkeit speist, machen Shapshay und Cartwright zurecht aufmerksam. Shapshay betont in diesem Zusammenhang auch die Notwendigkeit einer Tierethik, die bei Schopenhauer schon angelegt sei. Beide überschätzen allerdings Schopenhauers Begriff des Mitleids und verkennen daher die notwendige begriffliche Unterscheidung zwischen willenloser Grundhaltung und intentionaler auf Mitleid basierender Willensverneinung sowie die Schwierigkeiten, die sich dadurch für Schopenhauers Konzeption der kompletten Willenlosigkeit ergeben. Siehe hierzu: Shapshay (2019), S. 210ff., 220f., und Cartwright: Compassion, S. 60-69.

[23] Schopenhauer diskutiert neben der intuitiven Erkenntnis der Ideen auch andere lebenspraktische Möglichkeiten, die zu einer resignativen Lebenshaltung führen können, etwa das real erlebte Unrecht und die Grausamkeiten des Alltags. Auf die Schwierigkeiten dieser alternativen Möglichkeiten oder des sogenannten „zweiten Wegs“ zur Willensverneinung sowie auf die problematischen begrifflichen Implikationen einer intentionalen (willentlichen) Willensverneinung durch asketische Praktiken weist Koßler hin: Vgl. Koßler: Schopenhauers Soteriologie, S. 173f., 176f.

[24] Um dieses letzte Wort (Nichts) der ersten Auflage des schopenhauerschen Hauptwerks ranken sich einige editorische Streitigkeiten, die mit einer Anmerkung in Schopenhauers Handexemplar in Verbindung stehen: „Dieses ist eben das Pradschna-Paramita der Buddhaisten […]“. Lütkehaus sieht durch diesen Zusatz, den Hübscher als Fußnote in seine Ausgabe der Welt als Wille und Vorstellung aufgenommen hatte, eine Relativierung der radikal negierenden Kraft, die mit Schopenhauers nihilistischem Denken verbunden sei und kommentiert diesen Umstand wie folgt: „Der untergangsgefährdete Lebenswille kann sich im Verein mit der Vorstellungswelt des gelehrten Menschenverstandes wieder auf den festen Boden einer akademischen Fußnote retten.“ (Lütkehaus: Einleitung zu Lütkehaus, L. (Hg.): Arthur Schopenhauers Werke in fünf Bänden, Beibuch: S. 22). Weniger beachtet wurde die soteriologische Komponente der Negativität des schopenhauerschen Denkens in der angelsächsischen Literatur, wo man diesen Teil des „einen Gedankens“ eher als infame Zuspitzung des Pessimismus gewertet hat. Siehe hierzu die Kommentierungen von: Magee: The Philosophy of Schopenhauer, S. 242f., und Jannaway: Schopenhauer's Pessimism, S. 341. Als letztes Ziel und integrativen Kulminationspunkt der schopenhauerschen Philosophie wird die Erlösung des Subjekts im „Nichts“ u.a. von Malter bestimmt: Siehe hierzu Malter (1991), S. 51. Die vorliegende Abhandlung schließt sich in diesem Punkt, wie bereits dargelegt, Malter an.

[25]In eine ähnlich aufklärerische Richtung gehen die sorgfältigen Ausführungen von Caldeira Ramos: A teoria da justiça de Schopenhauer, S. 182f.